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Tagung 2018

Dorf und Dörflichkeit: Studien zum sozialen Leben im Dorf

Verantwortlich: Prof. Dr. Eva Barlösius (Leibniz Universität Hannover) und Prof. Dr. Claudia Neu (Georg-August Universität Göttingen/Universität Kassel)
Ort: Historische Sternwarte der Universität Göttingen, Geismar Landstr. 11, 37083 Göttingen (http://www.uni-goettingen.de/de/96209.html)
Gefördert durch: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages

 

Ankündigung

Die Tagung beabsichtigt, den Begriff der Dörflichkeit in die Diskussion bringen, um mit den längst überholten, aber noch immer gebräuchlichen Kennzeichnungen des sozialen Lebens im Dorf zu brechen. Diese stammen mehrheitlich – zumindest vom Duktus her – aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, weshalb sich in ihnen der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft reflektiert. Typisch für diese Kennzeichnungen ist, dass sie dem sozialen Leben im Dorf solche Merkmale zuweisen, die mit der Vergangenheit assoziiert sind. Abgesehen davon, dass sie sich historisch weitgehend als falsch erwiesen haben, eignen sich diese Charakterisierungen nicht im Geringsten dazu, zu verstehen, ob und wodurch sich das soziale Leben im Dorf in der Wissensgesellschaft auszeichnet. Die Jahrestagung 2018 will Antworten auf diese Fragen geben und schlägt dazu vor, mit dem Begriff der Dörflichkeit zu arbeiten.

Mit dem Begriff Dörflichkeit soll die Möglichkeit eröffnet werden, systematisch zu erfassen und zu beschreiben, ob und durch welche spezifische Sozialität das Leben im Dorf charakterisiert ist, dabei geht es uns vor allem um die Gestaltung und Qualität der sozialen Beziehungen (Barlösius/Spohr 2017). Dass trotz Globalisierung und Digitalisierung des Sozialen Dörflichkeit eine eigene soziale Wirkungsmacht besitzt, zeigt sich beispielsweise in den Prozessen der Verdörflichung infrastruktureller Einrichtungen, der Bedeutung von sozialen Beziehungen mit Face-to-Face-Charakter und den Formen unmittelbarer sozialer Integration.

Die etablierten bis heute gebräuchlichen Erfassungen und Beschreibungen der sozialen Beziehungen im Dorf greifen noch immer auf Charakterisierungen zurück, deren Grundtypus vor 130 Jahren entwickelt wurde (Tönnies 1887). Er besteht darin, wertende begriffliche Oppositionspaare zu verwenden und für das Dorf stets jene Eigenschaften als typisch auszuweisen, die als überholt und der Zukunft abgewandt gelten: Gemeinschaft, Tradition, öffentliche Privatheit, Zusammenhalt, Intoleranz etc. Der Stadt werden dagegen die gegenteiligen Merkmale gutgeschrieben und Zukunftsfähigkeit attestiert. Dass diese Differenzbestimmungen sowohl für die empirischen Forschungszugänge wie auch für die theoretischen Rahmungen nicht mehr angemessen sind, die soziale Wirklichkeit (Berger/Luckmann) des dörflichen Lebens zu analysieren, drückt sich besonders klar darin aus, dass in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit Übergängen, Hybriden und Zwischenbereichen gearbeitet wird. Diese Begriffe suggerieren, dass sich beinahe alle Differenzen aufgelöst haben bzw. unerheblich geworden sind.

Nicht nur die oben genannten empirischen Beispiele sprechen dagegen, dass sie dies der Fall ist, auch die Tatsache, dass das Dorf in der Literatur (z.B. Juli Zeh: „Unterleuten“, Hans de Stoop „Das ist mein Hof“) sowie in den Medien zunehmend ein Ort der Imagination des Anderen ist, lässt daran Zweifel aufkommen. Allerdings sollte auch einer weiteren Renaissance der Romantisierung der Dörflichkeit vorgebeugt werden, denn so sehr man sich über die künstlerische und mediale Aufmerksamkeit freuen mag, ob sie zu einer angemesseneren Erfassung und Beschreibung des sozialen Lebens im Dorf beitragen wird, ist fraglich. Die Tagung soll dazu beitragen, genauer zu bestimmen, was Dörflichkeit auszeichnet.

 

Programm

Begrüßung, Einführung ins Thema der Tagung durch Eva Barlösius und Claudia Neu

Werner Nell/Marc Weiland (Universität Halle-Wittenberg):
Imaginäre Dörfer: Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt

Gisbert Strotdress (Wochenblatt für Landwirtschaft & Landleben/Münster):
Mediale Dorf-Bilder der Gegenwart zwischen Landlust und Randfrust

Eva Barlösius (Leibniz Universität Hannover):
Dörflichkeit: soziale Beziehungen, Verpflichtungen und Ansprüche besonderer Art?

Claudia Neu (Universität Göttingen/Kassel):
Akteure der neuen Ländlichkeit und Dörflichkeit

Abschlussdiskussion:
Dörflichkeit – ein lohnender Begriff?

Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Agrargeschichte

Führung durch die historische Sternwarte

 

Referentinnen und Referenten

Eva Barlösius hat die Professur Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse an der Leibniz Uni­versität Hannover inne und leitet das Forschungszentrum Science and Society (LCSS). Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören Infrastrukturen, Dörflichkeit und Wissenschafts­soziologie.

Werner Nell hat eine Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne. Seine Arbeitsgebiete sind u.a. Verglei­chende Regionalitätsstudien und Interkulturelle Deutschlandstudien. Er ist der Sprecher des Forschungs­projekts Experimentierfeld Dorf.

Claudia Neu ist Professorin für die Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttin­gen und Kassel. Sie ist die stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrates „ländliche Ent­wicklung“ des BMEL (2016-2019). In der Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit den Themen Demographischer Wandel, Zivilgesellschaft sowie Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen.

Gisbert Strotdrees ist Historiker und arbeitet seit 1988 als Redakteur beim Wochenblatt für Landwirtschaft & Landleben in Münster für die Themenfelder Kultur, Freizeit, Agrar- und Landes­geschichte sowie Familie / Soziales. Er hat etliche Bücher zum Themenbereich Land­leben und Landwirtschaft publiziert.

Marc Weiland koordiniert an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das For­schungsprojekt Experimentierfeld Dorf, das von der VolkswagenStiftung finanziert wird. Er hat Literatur­wissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie studiert und mit einer Arbeit über „Schöne neue Dörfer“ promoviert.

 

Tagungsbericht

Von Friederike Scholten (Münster) und Stefan Brakensiek (Essen)

Die wissenschaftliche Jahrestagung der Gesellschaft für Agrargeschichte widmete sich dem Thema „Dorf und Dörflichkeit“. Anknüpfend an aktuelle gesellschaftspolitische und kulturelle Entwicklungen ging es darum, den Begriff Dörflichkeit in die Debatte einzubringen, ihn zu konturieren und seine empirische Nützlichkeit zu erproben. Im Mittelpunkt standen die Fragen, wie sich soziale Beziehungen im Dorf aktuell gestalten und ob dörfliches Zusammenleben durch spezifische Formen der Sozialität charakterisiert ist. Aktualität erlangt die Thematik dadurch, dass trotz Globalisierung und Digitali­sierung des Sozialen, Dörflichkeit eine eigene soziale Wirkungsmacht zu besitzen scheint, identifi­zierbar in der Bedeutung von sozialen Beziehun­gen mit face-to-face-Charakter und Formen unmittelbarer sozialer Inte­gration. Den Veranstalterinnen Eva BARLÖSIUS (Hannover) und Claudia NEU (Göttingen) ging es zudem darum, die „alten“ Kennzeichnungen des sozialen Lebens im Dorf (Nähe, Kommu­nikation, Dauer, Kontrolle) zu diskutieren und zugleich zu fragen, ob diese Form der Nahbeziehungen nicht auch in Städten bzw. städtischen Quartieren vorkommt. Abgesehen davon, dass die alten Differenzbestimmungen (klassisch das Begriffspaar „Gemeinschaft versus Gesellschaft“ bei Ferdinand Tönnies) sich weitgehend als historisch falsch erwiesen hätten, finden sich gerade in Städten aktive Nachbarschaftsbewegungen, die sich auch unter zur Hilfenahme digitaler Medien um enge soziale Beziehungen bemühen.

Nach der Einführung in die Thematik durch die beiden Veranstalterinnen, zeigte der Vortrag der beiden Literaturwissenschaftler Werner Nell und Marc Weiland (Halle) anschau­lich die Wiederkehr des Ländlichen auf, sowohl in der Literatur und im Film, als auch in der Lebenswelt. Anhand aktueller Beispiele wurde gezeigt, dass das Dorf in der Literatur (z.B. Juli Zeh: „Unterleuten“, Hans de Stoop „Das ist mein Hof“) als ein Ort gilt, an dem sich eine Vielzahl von Themen überkreuzen: Landschaft und Natur, Selbsterfahrung und Arbeit, Ökolo­gie und Sozialität, Partizipation und Selbstorganisation, und eben auch Imagination – eine Imagination von Alterität, geprägt durch das ständige Hin und Her zwischen Stadt und Land. Dieser aktuelle Trend in der deutschsprachigen Literatur führe dazu, so Nell und Weiland, dass mediale Aufmerksamkeit erzeugt werde, die den Blick der Gesell­schaft über­haupt erst (wieder) auf das Dorf lenke. Die neuere Literatur sei nicht immer frei von Romantisierung des Ländlichen; Flucht vor und Interesse an dörflicher Realität erfolgten jedoch inter­essanterweise parallel. Heutige Literaten schrieben durch die Bank nicht „dörf­lich“, sondern modern über Dörfer. Dies markiere einen gravierenden Unterschied gegenüber der Dorfliteratur des 19. Jahr­hunderts. Die literarische Entwicklung wurde von den beiden Referenten als Teil einer gesamtgesellschaftlich zu beobachtenden Hinwendung zum Länd­lichen interpretiert, die z.B. auch im Erfolg von entsprechenden Fernsehserien manifestiere. Die Frage sei, ob im Zuge dieser medialen „Neuen Ländlichkeit“ auch Dörflichkeit, die genui­nen Formen des dörflichen Zusammenlebens im Sinne des Tagungsthemas mithin, neu modelliert werde.

Daran schloss der Vortrag von Gisbert Strotdrees (Münster) nahtlos an, der als Redakteur des „Wochenblatts für Landwirtschaft und Landleben“ gut informierte Einblicke in die aktuelle mediale Präsenz des Dorfes gab. Sein Befund ist eindeutig und wurde auch empirisch belegt: Seit den 1990er Jahren haben Themen wie „Dorfalltag“ und „Landalltag“ in den Medien Konjunktur; ein weiter verstärktes Interesse an dörflichen und ländlichen Themen könne seit etwa 2016 festgestellt werden. Die Ursachen dafür seien vielfältig, jedoch nicht einfach zu identifizieren. Die fehlende politische und massenmediale Aufmerk­samkeit für die Probleme des ländlichen Raumes hätten der Romantisierung des Dorfes Vorschub geleistet; das Dorf werde als „sicherer Hafen“ empfunden. Diese Nostalgie sei ein gesellschaftliches Krisensymptom. Anhand der Entwicklung der Zeitschrift „Landlust“, die im gleichen Verlag wie das „Wochenblatt“ erscheint, zeigte Strotdrees auf, dass das medialisierte Landleben nach den Regeln der Metropolen begriffen und konstruiert werde.

Der dritte Vortrag von Eva Barlösius (Hannover) fragte danach, ob Dörflichkeit eine eigene Form von Sozialität repräsentiere. Der Neologismus Dörflichkeit wurde von ihr abgegrenzt gegenüber den weiterhin vorherrschenden Konzepten von „Dorf“ und „Land“. Diese stammten mehrheitlich, so ihr Befund, vom Ende des 19. Jahr­hunderts, weshalb sie in erster Linie den Übergang von der Agrar- zur Industrie­gesellschaft reflektierten. Typisch für diese traditionellen Kennzeichnungen sei, dass sie dem sozialen Leben im Dorf überwiegend solche Merkmale zuwiesen, die mit der Ver­gangenheit assoziiert sind. Wertende begriffliche Oppositionspaare wiesen für das Dorf stets jene Eigenschaften als typisch aus, die als überholt und der Zukunft abgewandt gelten: Gemeinschaft, Tradition, öffentliche Privatheit, Zusammenhalt, Intoleranz etc. Der Stadt würden dagegen die gegen­teiligen Merkmale gut­geschrieben und Zukunftsfähigkeit atte­stiert. Dass diese Differenz­bestimmungen sowohl für die empirischen Forschungszugänge wie auch für die theoreti­schen Rahmungen nicht mehr angemessen seien, um die soziale Wirk­lichkeit des dörflichen Lebens zu analysieren, drücke sich besonders klar darin aus, dass in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit Übergängen, Hybriden und Zwischen­bereichen gearbeitet werde. Diese Begriffe suggerierten, dass sich beinahe alle Differenzen aufgelöst hätten bzw. unerheblich geworden seien, was der jedoch keineswegs zutreffe. Der neue Begriff Dörflichkeit solle die Chance eröffnen, von den o.g. unzu­treffenden Konnotationen unbelastet, über die Spezifika des Sozialen auf dem Lande nachzudenken.

Claudia Neu (Göttingen) betrachtete in ihrem Vortrag die Akteure der Neuen Ländlichkeit (Nell/Weiland) und der Dörflichkeit (Barlösius). Sie stellte voran, dass Ländlichkeit keines­wegs als Raumkategorie zu begreifen sei, sondern als ein Diskurs- und Handlungs­raum, in dem sich unterschiedliche Akteure begegnen. In der Neuen Ländlichkeit würden demnach gesellschaftliche Fragen der Moderne verhandelt, nicht zuletzt allgemeine Befindlichkeiten und Ängste. Als Beispiele für den vielgestaltigen Handlungsraum der Neuen Ländlichkeit nannte sie neben der wiederentdeckten privaten Hauswirtschaft, das „urban gardening“ und die Wert­schätzung von Nachbarschaft. Mit Barlösius versteht sie den Begriff der Dörflichkeit als ein Angebot, spezifisch dörfliche Form der Vergesellschaftung zu erfassen, eine Sozialität, die auf Nähe, Autonomie, Zusammenhalt und Kommunikation ziele. Ob diese Dörflichkeit dann Homogenität benötige oder herstelle, zog sie in Zweifel. Die Referentin stellte empirische Studien vor, die es nahelegen, dass soziale Orte, sog. third places, die Kommunikation ermöglichen, Öffentlichkeit schaffen und dem Gemeinwohl dienen, Dörflich­keit zwar nicht hervorbrächten, ihre Gestaltungskraft aber sehr wohl unterstützten.

Die Abschlussdiskussion beschäftigte sich vor allem mit Trennschärfe und Sinn des Begriffes Dörflichkeit. Schnell wurde deutlich, wie diskussionsbedürftig der Begriff ist. So gab es einerseits ein Plädoyer dafür, den Terminus nicht weiter zu nutzen, sondern von „Kommuni­kation unter Anwesenden“ zu sprechen, was die mit Dörflichkeit adressierten Formen von Sozialität angemessener bezeichne. Andererseits wurden Möglichkeiten angesprochen, den Begriff zu konkretisieren und inhaltlich anzureichern. Das Potential von Dörflichkeit bestehe – im Gegensatz zum Begriff des Dorfes – gerade in seiner Künstlichkeit. Uneinig waren sich die Teilnehmer, ob Dörflichkeit an Dorf gebunden sei oder – mit Barlösisus – eine davon abgelöste Qualität von Sozialität bezeichnen solle. Diese Debatten gilt es weiterzuführen.

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