Jg. 63 – 2015 – Heft 1: Kirche im ländlichen Raum
Editorial
Martina Schattkowsky, Johann Kirchinger
Das Verhältnis zwischen Kirchen und ländlicher bzw. landwirtschaftlicher Bevölkerung gestaltet sich aktuell keineswegs unproblematisch. Der Kirchenbesuch geht auch in den Dorfern zurück. Für den Schweizer Historiker Peter Hersche befinden sich bäuerliche Landwirtschaft und kirchliche Religiosität in einem symbiotischen Verhältnis, so dass der Rückgang traditioneller Frömmigkeit auf dem Land mit dem landwirtschaftlichen Strukturwandel eng verbunden ist. Speziell für die katholische Kirche gilt, dass eine flachendeckende Seelsorge aus Priestermangel kaum noch aufrecht zu erhalten ist, was für die evangelischen Kirchen nicht zuletzt aus finanziellen Gründen ebenfalls ein Problem darstellt. Wissenschaftliche Studien zur kirchlichen Praxis in Dörfern oder zu physischen und psychischen Belastungen von Landpfarrerinnen und Landpfarrern gehen dem nach und sollen den Kirchenleitungen Entscheidungen für strukturelle Veränderungen ermoglichen.
Dabei ist die Kirche mit ihren Institutionen aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Angebote vielfach noch heute ein zentraler öffentlicher Akteur im ländlichen Raum, der ‑ allerdings mit großem räumlichen Gefälle ‑ für die Bewältigung existenzieller Probleme der Menschen ebenso wie etwa für die dörfliche Festkultur von großer Bedeutung ist. Dies zumindest schlaglichtartig in seiner historischen Tiefenschärfe sowie möglichst regional und konfessionell differenzierend auszuloten, ist Anliegen dieses Themenheftes, das sowohl Historiker und Soziologen als auch praktisch unmittelbar mit solchen Fragen involvierte Spezialisten vereint.
Kirche und ländlicher Raum standen bis zur Moderne in einer engen und wechselseitigen Beziehung. Dies liegt schon an der ökonomischen Bedeutung der Landwirtschaft für die Kirche. Vom einfachen Dorfgeistlichen bis bin zum Bischofsstaat stellte die Landwirtschaft bis weit ins 19. Jahrhundert die existenzielle Grundlage des kirchlichen Lebens dar. Deshalb gestalteten die verschiedenen kirchlichen Institutionen aller Konfessionen diesen ländlichen Raum schon im eigenen Interesse aktiv mit. Die Kirche war durch Pfarreien, Kloster und Stifte, aber auch durch die Sammelbezirke der Bettelordenskonvente vielerorts auf den Dörfern präsent. Die Grundherrschaften geistlicher lnstitutionen prägten in wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Hinsicht den bäuerlichen Alltag und veränderten die Kulturlandschaft. Als herausragendes Beispiel seien nur die technologischen Leistungen der mittelalterlichen Zisterzienserklöster für die Urbarmachung ganzer Landstriche etwa in der Mark Brandenburg genannt. In der Frühen Neuzeit betätigten sich dann zahlreiche Landgeistliche als Agrarreformer und -schriftsteller, so etwa der evangelische Kupferzeller Pfarrer Johann Friedrich Mayer (1719-1798). Wie Karl Friedrich Bohler am Beispiel Mayers zeigen konnte, war die Tätigkeit der Agrarreformer unter der Pfarrerschaft maßgeblich auch pastoraltheologisch bestimmt.Es war dann vor allem ein klerikalisierender Professionalisierungsschub, der ab dem frühen 19. Jahrhundert auch im Protestantismus die intellektuelle, nicht nur praktische Beschäftigung mit der Landwirtschaft als nicht standesgemäß stigmatisierte ‑ ein Prozess, der in der katholischen Kirche erst im 20. Jahrhundert zum Abschluss kam. Zudem übten die Geistlichen im Dorf auch eine wichtige herrschaftsstabilisierende Funktion aus; oft waren sie die einzigen öffentlichen Amtsträger vor Ort. Die Verkündigung von Gesetzen und Verordnungen von der Kirchenkanzel war bis ins 19. Jahrhundert in vielen Territorien üblich. Schließlich kam der Kirche bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ‑ und mancherorts noch heute – eine große soziologische Bedeutung zu. War doch die Kirche der herausragende Ort, an dem sich das Dorf als sozial gegliederter Organismus des göttlichen Beistandes angesichts einer ehedem kaum und heute auch noch nicht ganz durchschaubaren Natur vergewisserte.
Für das Mittelalter spielt vor allem die Pfarrei eine herausragende Rolle. Das Niederkirchenwesen hat sich in Mitteleuropa auf der Grundlage des frühmittelalterlichen Eigenkirchenwesens entwickelt, im Hochmittelalter institutionell voll ausgebildet und im späten Mittelalter weiter entfaltet. Bereits vor der Reformation gab es eine dichte Kirchenorganisation, die flächendeckend die religiöse Versorgung der Bevölkerung sicherstellte, darüber hinaus aber in vielfaltiger anderer Hinsicht den Alltag der Menschen prägte.Allein im deutschsprachigen Raum dürfte es um 1500 schätzungsweise 50.000 Pfarreien gegeben haben. Zum allergrößten Teil waren dies Landpfarreien. Die bekannte Sentenz, man solle „die Kirche im Dorf lassen“, hat hier ihren Hintergrund.
Stärker noch als in der Stadt überschnitten sich in den Kirchspielen religiöse und weltliche Funktionen, denn sie deckten sich vielfach mit der Dorfgemeinde, waren in manchen Regionen zugleich auch Gerichts- und Wehrbezirke. Während der Pfarrseelsorge in den spätmittelalterlichen Städten durch die im 13. Jahrhundert aufkommenden Bettelorden eine zeitweilig starke Konkurrenz erwuchs, blieb die Pfarrei im ländlichen Raum unangefochten die wichtigste Institution kirchlicher Heilsvermittlung und wurde zum Ziel vielfaltiger Stiftungen. Die dadurch anfallenden Güter und Einkünfte bildeten die Kirchenfabrik, die im späten Mittelalter zur wichtigsten zur Einfallschneise der Laien wurde, um Mitspracherechte im Niederkirchenwesen geltendzu machen.
Die Grundstrukturen des mittelalterlichen Niederkirchenwesens haben die Reformation überstanden. Auch nach der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts bildete die Pfarrei für alle Konfessionskirchen das bewahrte religiöse Organisationsmodell. Die Pfarrei erweist sich so, wie der Göttinger Historiker Wolfgang Petke treffend hervorhob, als eine „Institution von langer Dauer“. In diesem relativ beständigen institutionellen Rahmen haben sich aber nicht nur die religiösen Lebensformen immer wieder gewandelt, sondern auch die Seelsorger haben ihre Rolle in der Pfarrei und ihr Verhältnis zur Pfarrgemeinde stets aufs Neue finden müssen. Ohne die Berücksichtigung der Pfarrgeistlichkeit lässt sich die Bedeutung der Pfarrei nicht angemessen verstehen.
Ein unbekannter Autor aus dem Bistum Meißen ‑ vermutlich ein Pfarrer – hat Ende des 15. Jahrhunderts eine satirische Schrift über den Alltag des Dorfpfarrers verfasst. Diese mehrfach gedruckte >Epistola de miseria curatorum seu plebanorum< stellt den Dorfpfarrer in ein soziales Beziehungsgeflecht, das durch neun Teufel verkörpert wird, die ihn in Gestalt des Bischofs und Offizials, aber auch des Bauern und der Pfarrersköchin quälen. Die Tatsache, dass diese Schrift auch nach der Reformation nachgedruckt und variiert wurde, zeigt, dass der Verfasser Grundkonstanten des Alltags in der Dorfpfarrei thematisiert hat. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass das hier gezeichnete Bild auch stereotyp war und sich gerade in der Neuzeit auch neue Dimensionen der Rolle von Landgeistlichen erschließen lassen. Friedrich Pollack untersucht dies im vorliegenden Themenheft speziell am Beispiel der sorbischen Landgeistlichkeit in der frühneuzeitlichen Oberlausitz und verweist auf die enge Verflechtung zwischen Pfarr- und Bauernstand. Zugleich jedoch war der Pastor hier nicht nur Agent weltlicher Obrigkeiten, sondern spielte aufgrund seiner Zweisprachigkeit eine wichtige Rolle bei kommunikativen und kulturellen Transferprozessen sowie bei der Entfaltung des neuzeitlichen sorbischen Nationaldiskurses.
Das soziale Beziehungsgeflecht, in das die Dorfpfarrer gestellt waren, führte aber auch zu zahlreichen strukturellen Konflikten, die eine traditionale Antiklerikalität in der Bevölkerung bewirkten und die sich im politischen Massenmarkt des 19. Jahrhunderts zu einem ideologischen bäuerlichen Antiklerikalismus wandelte, wie Johann Kirchinger hier am Beispiel des Bayerischen Bauernbundes zeigt.
Strukturell bedingte Antiklerikalität war auch eine der wesentlichen Ursachen für den Erfolg der Reformation im ländlichen Raum. Zwar wird die Reformationsgeschichte seit Langem vor allem als Fürsten- und als Stadtreformation gedeutet, doch handelt es sich bei der Reformation keineswegs nur um ein „urban event“ (Arthur G. Dickens), sondern sie erfasste eine Gesellschaft, die überwiegend in Ackerbürgerstädten und Dörfern lebte. Hinsichtlich ihrer Rezeption, Durchsetzung (oder Verhinderung) bedarf die Reformation im ländlichen Raum noch intensiverer Erforschung. Peter Blickles Konzept des >Kommunalismus< weist darauf hin,doch bleibt für eine Reformationsgeschichte des ländlichen Raumes noch viel zu tun. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit ist nicht zuletzt auch im Umfeld des Reformationsjubiläums von 2017 die Diskussion über Religion und Konfessionsbildung wieder lebhafter geworden. Die Rolle von Kirche, Religion und Glauben sowie ihre spezifischen Prägungen durch die Erfahrung des ländlichen Lebensraumes sind dabei allerdings eher in den Hintergrund gerückt. Themen wie die Handlungsspielräume von Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden auf dem Land, dasEngagement und das Selbstverständnis der hier tätigen lutherischen und katholischen Seelsorger, die Dorfkirche als Instrument der Verhaltensmodellierung der Gläubigen und des Klerus sind noch nicht ausreichend und für alle Konfessionen gleichermaßen gut erforscht und werden in diesem Heft allenfalls angerissen. Mit Blick auf den evangelischen Pastor als in der Reformation neu hervortretende Sozialfigur deutet sich immerhin an, wie sehr die großen kirchlichen und politischen Umbrüche des 16. Jahrhunderts auch die Beziehungen zwischen „Kirche“ und „Dorf“ beeinflusst haben.
Die ökonomische Bedeutung der Landwirtschaft für die Kirchen hat im Rahmen des allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandels im Industriezeitalter abgenommen. Zugenommen hat indes zunächst die Bedeutung der Landbevölkerung als Rekrutierungsbasis für kirchliches Personal, wobei nicht nur an den männlichen Klerus zu denken ist, sondern gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert an die vor allem weiblichen Orden und Kongregationen (auf katholischer Seite) und Diakonissen (auf evangelischer Seite), mit denen sich die Kirchen den sozialen Problemen der Zeit zuwandten. Zugenommen haben auch die politischen Kontakte zwischen Kirchen und Landbevölkerung im Rahmen der immer größer werdenden politischen Partizipationsmöglichkeiten. Dabei stand die Landbevölkerung zunächst als (passives) kirchentreuesWählerreservoir im Mittelpunkt des Interesses. Von dieser (oft vermeintlichen) Kirchentreue wurden dann in der katholischen und protestantischen Sozialethik die Leitbilder vom bäuerlichen Familienbetrieb und vom Agrarstaat abgeleitet. Seither ist die Landwirtschaft- nicht zuletzt wegen des industriellen Strukturwandels ‑ für beide Großkirchen vor allem ein Thema der Ethik bzw. der Moraltheologie. Im Rahmen der innerkirchlichen ethischen Diskurse hat sich infolge der Industrialisierung der Landwirtschaft der Schwerpunkt von der sozialethischen auf die bioethische Dimension verlagert, wobei sich das Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebes als stabil erwiesen hat. In diesem Kontext gestaltet sich das Verhältnis zwischen (Verbands-)Landwirtschaft und Kirchen aktuell durchaus gespannt.So stellt sich angesichts des Säkularisierungstrends, schwindender Bindekraft der großen Kirchen und neuer Seelsorgestrukturen generell die Frage, welche Rolle die Kirche im Dorf künftig noch spielen wird.
Inhalt
8
Martina Schattkowsky, Johann Kirchinger:
Editorial
12
Friedrich Pollack:
„Vohr das arme wendische PawersVolck gut rein Evangelisch predigen“. Geistlichkeit und ländliche Gesellschaft in der friihneuzeitlichen Oberlausitz
34
Karl Friedrich Bohler:
Aufklarungstheologie und Agrarentwicklung. Landpfarrer und Bauern im 18. Jahrhundert
50
Johann Kirchinger:
Bäuerlicher Antiklerikalismus umn 1900. Eine Modernisierungskrise zwischen Ver- und Entkirchlichung
66
Peter Hersche:
Die große Verwandlung. Kirche und ländliche Bevölkerung in der Schweiz des 20. Jahrhunderts
82
Abstracts
Forum
84
Christof Dipper:
Modernisierung mit Schönheitsfehlern: Hans-Ulrich Wehler, die Agrarwirtschaft und die ländliche Gesellschaft
96
Peter Moser:
Das Archiv fiir Agrargeschichte
104
Anja Granitza, Benjamin Stahl:
Ländliche Strukturen und ihr Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit von Pfarrerinnen und Pfarrern. Eine Befragung zur physischen und psychischen Belastung im Landpfarramt
108
Michele Spohr:
Die kirchliche Praxis im Dorf. Erste Ergebnisse des DFG-Projektes „Das Verhältnis von Infrastrukturen und Dörflichkeit“
Abstracts
Friedrich Pollack
>Vohr das arme wendische PawersVolck gut rein Evangelisch predigen [Preaching to the poor Sorbian peasants in a good, pure Protestant manner]
For some time German historical research has, not without reason, identified the Protestant parsonage as a German “Realm of Memory” (“Erinnerungsort”). However, the comparably high level of territorial and regional fragmentation of the Early Modern Protestant Church in Germany has rarely been considered in this context so far. In this study, I aim to sketch the social contours of the Sorbian (Slavic) Protestant clergy in Early Modern Upper-Lusatia (eastern Saxony} with special regard to its relationship with the predominantly rural Sorbian population ‑ thus examining its historical role in the bi-lingual and bi-denominational environment of this province.
Special attention is, therefore, given to the social background of the Sorbian priests, their economic status, their collective self-consciousness as well as their work on the Sorbian language. In the past decades, this issue triggered some controversial discussions among regional historians, despite a striking lack of basic research on the topic. The appraisal of the Sorbian protestant clergy fluctuated especially in the second half of the 20th century between “Sorbian national elite” and “henchmen of targeted cultural Germanisation of the Sorbian populace”. A diachronic, collective biographical analysis shows, however, that the relationship between Sorbian protestant priests and the local rural population was ‑ in social, economic and cultural matters ‑ much more ambivalent, also much less “national”, than these two most·polarised positions seem·to suggest.
Karl Friedrich Bohler
Enlightenment Theology and Agricultural Development. Country Parsons and Farmers in the 18th Century.
In the 18th century, the age of Enlightenment, country parsons had a great influence on the development of agriculture in the protestant parts of Germany ‑ greater than in the centuries before and afterwards. A very well known agricultural reformer of his time was the Reverend Johann Friedrich Mayer in the town of Kupferzell. He modernized the whole world of agriculture in the County of Hohenlohe in the South-West o{ Germany. He gave practical examples in his parsonage garden by raising certain plants such as clover and potatoes. He also published written guidance for farmers (Catechism of Agriculture). In this way he enabled farmers to become very wealthy.
Johann Kirchinger
Rural Anticlericalism around 1900. Modernization Crisis between Sacralization and Secularization
The Catholic Church, especially in its ultramontane manifestation, as well as the peasantry are counted among the losers of modernity. Based on this assumption, researchers on Catholicism explain the skyrocketing electoral successes of the parties of political Catholicism particularly in the rural areas. Increasing socio-economical tensions at the end of the 19th century put political Catholicism to the acid test, which generated an anticlerical attitude among the Bavarian Peasants League (Bayerischer Bauernbund) and most of all in a predominantly catholic Lower Bavaria. This anticlericalism, however, had become an unabated tradition in pre-modern Catholic anticlericalism, which could not be jarred by the Reformation and was neither areligious nor anti-Catholic but which was rather based on structural differences between the village population and the priests. What is more, these differences were exacerbated by the claim of the ultramontane Church to interpretational sovereignty on all religious phenomena. The anticlericalism of the peasantry at the end of the 19th century was, therefore, part of the modernization crisis, which developed from a conflict between secularization and sacralization. The Church as well as the peasants accelerated the separation of the sacred and the secular sphere; the exact route of the demarcation line was, however, a contentious issue. Rural parishes and the Catholic Church of the 19th century should not be seen as adversaries to the bourgeois utopia of the modern era, but as distinct manifestations, organized by means of inbuilt principles.
Peter Hersche
The Great Transformation. The Church and the Rural Population in 20th Century Switzerland ·
This article focuses on the connection between the decline of European traditional agriculture and (mostly) Catholic religious traditions in the 20th century. Compared with earlier epochs, there is generally very little research on this topic. The author uses Switzerland as a model, describing the structure of both the Protestant and Catholic Churches, the parish organization, the function of church-wardens and the political frame of religion in rural regions. He emphasizes the importance placed on each village having its own church and clergyman. He discusses the clergyman“s position in relation to the parishioners, the use of religious offerings by the congregation, and differences between church directives and popular wishes. These, in consequence, could create conflicts between clergy, laity and competition from other organizations. The article concludes with perspectives for the future of religion in this country and considers the possibility of generalized conclusions from specifically Swiss observations.