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Jg. 59 – 2011 – Heft 2: Die Kommerzialisierung ländlicher Gesellschaften vor der Industrialisierung

Editorial

Angesichts der mittlerweile vollständigen Integration des ländlichen Raums in die moderne Marktgesellschaft erscheint das Dorf des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als ein Ort marktferner Selbstgenügsamkeit. Diese aus dem historischen Kontrast gewonnene Perspektive haben bis weit ins 20. Jahrhundert auch die einschlägigen Geistes- und Sozialwissenschaften eingenommen: In der deutschen Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Volkskunde und der Nationalökonomie galt das vormoderne Dorf als eine Welt, in der familiäre Selbstversorgung und nachbarschaftlicher Austausch vorherrschten. Das betraf sowohl den Bereich der Produktion als auch der häuslichen Konsumption: Überall hätten die Logiken sozialer Beziehungen die Marktlogiken überlagert, ja dominiert. Seit dem späten 19. Jahrhundert haben Historiker und Ökonomen zwar zahlreiche Indizien für die Kommerzialisierung von ländlichen Gesellschaften bereits für die Zeit des Spätmittelalters wahrgenommen, haben die Marktbezogenheit jedoch als dem Dorf wesensfremd sozusagen externalisiert, indem sie auf herrschaftliche Gewalt oder auf städtische Anregungen zurückgeführt wurde. So wurde für die Vermarktung bäuerlicher Agrarprodukte auf den urbanen Märkten vor allem der Zwang verantwortlich gemacht, Feudalabgaben und Steuern aufzubringen. Und das Aufkommen von ländlichen Exportgewerben wurde eher der Initiative städtischer Kaufleute als der Findigkeit der Dorfbevölkerung zugeschrieben. Von dieser Sicht hat sich die Forschung seit Langem verabschiedet. Für weite Teile Europas hat sie eine Vielzahl von Phänomenen beobachtet, die dafür sprechen, dass zunächst einzelne Landbewohner, später weite Bevölkerungskreise ganzer ländlicher Regionen höchst eigenständig auf Produkt-, Kredit- und Arbeitsmärkten agierten. Neuere Arbeiten betonen, dass dieses ökonomische Handeln keineswegs voraussetzungslos erfolgte, dass es von den religiösen Vorstellungen, den geschlechts- und standesspezifischen Zuschreibungen und den sozialen Verbindlichkeiten im verwandtschaftlichen oder gemeindlichen Rahmen geprägt, also sozio-kulturell eingebettet war. Und doch war es kein Gabentausch, sondern Markthandeln, kannte Preisbildung. Hinzuweisen ist auf die Entstehung eines ausdifferenzierten Landhandwerks und die wachsende regionale Verflechtung von agrarischen Arbeitsmärkten, die Entstehung von lokalen und regionalen Spezialisierungen in allen Bereichen der landwirtschaftlichen und der gewerblichen Produktion , die Ausprägung von komplementären Agrar- und Gewerberegionen, schließlich die Entstehung von komplex strukturierten ländlichen Exportgewerben mit Weltmarktorientierung, aber auch das verbreitete Phänomen von einzelnen Dörfern oder Kleinregionen, deren Einwohner sich auf bestimmte Fertigkeiten spezialisierten, mit denen sie vor Ort oder als saisonale Wanderarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienten. Bei all diesen Forschungen hat es sich als ausgesprochen erkenntnisfördernd erwiesen, die räumliche Dimension der beobachteten Phänomene zu berücksichtigen.

Je nach Untersuchungsgegenstand konnten unterschiedlich dimensionierte Regionen ermittelt werden, für die bestimmte Merkmale bzw. Kombinationen von Faktoren gelten, die so für andere Gegenden nicht festzustellen sind. Diese Beobachtung ist im Konzept pfadabhängiger  Entwicklung fruchtbar gemacht worden: Eine an sich kontingente Verhaltensweise einer Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit kann sich situativ als sinnvoll erweisen. Personen aus dem Nahbereich übernehmen dieses Verhalten, dadurch setzt fachliche Sozialisation ein, die in dem Moment strukturprägend wirkt, wenn dadurch koordiniertes Handeln von vielen ermöglicht wird. Häufig, aber nicht zwangsläufig, haben die Zeitgenossen dafür korporative Ordnungen gefunden. Ob im Rahmen von Korporationen oder auch nur aufgrund sozialer Konventionen: Regionen unterschiedlichen räumlichen Zuschnitts erlangten so komparative Kostenvorteile, die für später auftretende Konkurrenten prohibitiv wirken konnten. Mit diesem Ansatz lässt sich erklären, warum die kommerzielle Entwicklung Europas überwiegend regionenspezifisch verlief. Und um es noch einmal zu betonen, davon waren Stadt und Land gleichermaßen betroffen, meist in Form wechselseitiger Abhängigkeit. In den deutschsprachigen Gebieten setzte die  Kommerzialisierung des platten Landes mit der Welle der mittelalterlichen Stadtgründungen ein, erreichte im 15./16. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt und entwickelte sich seit der Wende zum 17. Jahrhundert in vielen Gegenden aus verschiedenen Gründen (Klimaverschlechterung, Inflation, intensivere Abschöpfung durch Obrigkeiten, vor allem aber durch die vielen Kriege) rückläufig. Diese Krise konnte nur allmählich überwunden werden, bis die kommerziellen Aktivitäten seit Mitte des 18. Jahrhunderts erneut stark an Bedeutung gewannen. Für diese Entwicklungen sind nicht allein exogene Faktoren verantwortlich zu machen, auch wenn unzweifelhaft von außen an die Landbewohner herangetragene Anreize und Zwänge eine große Rolle gespielt haben. Ein befriedigendes Bild der Entwicklungen lässt sich aber erst zeichnen, wenn das Handeln der ländlichen Bevölkerung als gleichrangiger Faktor berücksichtigt wird.

Die angesprochenen kommerziellen Aktivitäten sind in der neueren Forschungmeist jede für sich untersucht worden, ohne dass das Ausmaß der vorindustriellen Kommerzialisierung insgesamt thematisiert worden wäre. Den wohl wichtigsten integralen Ansatz der letzten 30 Jahre bildet das Konzept der Protoindustrialisierung, in dessen Rahmen Demographie und Haushaltsstrukturen, intensivierte Agrarproduktion, gewerbliche Verdichtung und die Kultur der kleinen Leute auf dem Lande „zusammengedacht“ werden. Die bedeutenden Studien zur Protoindustrie in denverschiedenen europäischen Gewerberegionen sind freilich überwiegend bereits vor Jahren publiziert worden; in jüngerer Vergangenheit ist es deutlich ruhiger geworden um die Erforschung der Protoindustrie. So wertvoll diese Studien sind, die unser Bild von der ländlichen Welt vor dem Aufkommen der großen Industrie revolutioniert haben, so deutlich weisen sie doch einen Blindflecken auf: Sie behandeln dieVermarktung der Produkte des dörflichen Hausfleißes meist nur kursorisch, nicht systematisch. Diesem Forschungsdesiderat haben zwar neuere Arbeiten zum Handelvon Hökern, Krämern und Kaufleuten12 abgeholfen, gleichwohl fehlt es weiterhinan einem integrierenden Ansatz, der den Wandel der agrarischen und gewerblichen Produktion, der Kredit- und Arbeitsmärkte, der Demographie, der Wanderungsbewegungen und des Konsums konzeptuell zusammenführt. Dem zunehmenden Engagement der Landbevölkerung auf Produkt-, Kredit- und Arbeitsmärkten entsprach nämlich ein allmählich wachsender Konsum von solchenGütern, die nicht allein das Überleben sicherten, sondern weitere Bedürfnisse befriedigten, wie die nach Bequemlichkeit und ästhetischer Gestaltung von Kleidung undWohnung, nach Orientierung in der Welt (z.B. Druckerzeugnisse und Uhren), nach Genuss (Alkohol, Kaffee, Tee, Zucker) und selbstverständlich auch nach Repräsentation und Prestige. Solche Produkte, die nicht vor Ort hergestellt wurden, konnten zum Teil auf Jahrmärkten und in städtischen Geschäften erworben werden, sie wurden aber auch von Handwerkern auf Bestellung gefertigt. Hinzu kamen – vor der flächendeckenden Verbreitung von Dorfläden, die erst im 19. Jahrhundert gegeben war – ambulante Händler, die ihr Warenangebot den Kunden ins Haus trugen. Es stellt sich die Frage, in welchem Maße solche Güter Teil der dörflichen Alltagskultur wurden, ob sie lediglich dem Statuskonsum von Angehörigen lokaler  Oberschichten  dienten, oder ob sie darüber hinaus weitere Verbreitung fanden.
Jan de Vries hat dazu mit seiner Vorstellung von einer „industrious revolution“ ein aktuelles konzeptionelles Angebot unterbreitet: Diese Revolution habe sich aus zwei Elementen zusammengesetzt, einem spürbaren Wandel des Konsums und einem ebenso deutlich veränderten Arbeitsverhalten, die sich gegenseitig bedingtenund verstärkten. De Vries geht davon aus, dass auch „gewöhnliche“ Stadtbürger und Landbewohner seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend Geld für Modeartikel, Lebensmittel und Kolonialwaren ausgegeben haben; diese steigende Nachfrage nach Gütern habe eine wachsende Zahl von Personen dazu veranlasst, für den Markt statt für den Eigenbedarf zu produzieren. Dadurch seien bis dahin ungenutzte Arbeitskraft
verfügbar gemacht und Einfallsreichtum gefördert worden. Die „industrious revolution“ des 17./18. Jahrhunderts kann also als unmittelbarer Vorläufer und Wegbereiter der „industrial revolution“ des 19. Jahrhunderts gesehen werden.

Stefan Brakensiek
Barbara Krug-Richter

 

Inhalt

Editorial S. 8-12

Rolf Kießling: Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen im 15./16. Jahrhundert. Das Beispiel Ostschwaben, S. 14-36

Laurence Fontaine: Märkte als Chance für die Armen in der Frühen Neuzeit, S. 37-53

Sheilagh Ogilvie, Markus Küpker und Janine Maegraith: Krämer und ihre Waren im ländlichen Württemberg zwischen 1600 und 1740, S. 54-75

Julie Marfany: Was there an industrious revolution in Catalonia?, 76-90

Christine Aka: Grabsteine oder Jagdwagen. Bäuerliches Repräsentationsstreben und Statuskonsum in einer Marschenregion des 17. und 18. Jahrhunderts S. 91-104

ABSTRACTS: S 105-107

FORUM S. 108-125

Jessica Cronshagen: Die Hausleute. Landhandel und Landhändler, Pachtbauern und Erben, Landmänner und Vornehme in den friesischen Marschen des 17. und 18. Jahrhunderts. Vorstellung eines Dissertationsprojekts

Martina Schattkowsky: „Ein sonderbares Leben“. Nachruf auf Jan Peters 1932-2011

Andreas Dornheim: Bericht über die Fachtagung und Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Agrargeschichte e.V. (GfA) am 24. Juni 2011 in Frankfurt am Main

Juri Auderset: Bericht zur öffentlichen Arbeitstagung der Schweizerischen Gesellschaft für ländliche Geschichte (SGLG) „Zugänge zur ländlichen Gesellschaft“, St. Gallen, 30. April 2011

Clemens Zimmermann: Bericht über den internationalen Workshop „Politicization in Rural Societies: Concepts and Uses in History“, Carmona (Sevilla), 24./25. Februar 2011

REZENSIONEN S.126-138

Rolf Kießling:
Commercialisation of Rural Regions in the 15th and 16th Centuries: The Example of East Swabia
This article discusses, on the basis of the regional textile industry of eastern Swabia, those factors that indicate a commercialisation of agriculture in the fourteenth century. The basis of this development was the production of linen and fustian cloth, in which towns and countryside were both engaged, for purposes of export to markets throughout Europe. The essay first demonstrates that the growing of flax and the spinning of thread, as well as the production of semi-finished products, engaged the capacities of rural laborers to a very considerable extent. The merest glance at patterns of rural settlement makes clear that the expansion of smallholdings, the inadequate agricultural productivity of which forced peasants to embrace by-employments, determined the growth of villages. The intensification of the market system constitutes yet another indicator, signalling the increasing economic connection between city and countryside; it, too, coincides with the expansion of the exporting of fustian cloth.

The establishment of independent rural market-towns complemented attempts by cities to use market regulations to make their surrounding countrysides subject to and dependent upon them. When one studies individual weaving villages, a high degree of nonagricultural economic potential becomes visible, developed not only by urban capitalists but also and more interestingly by rural and territorial lords. Moreover the division of labor in regional textile production had an impact on other sectors of the economy, such as wood-, iron- and leather-working. On the basis of rural putting-out contracts and credit relations the monetization of the rural economy and the resort to money by rural laborers can be traced as early as 1400. These processes achieved a highpoint in the course of the sixteenth century, when the combination of agricultural and industrial production came to dominate the villages of eastern Swabia.

 

Laurence Fontaine:
Markets as a Chance for the Early Modern Poor
This article deals with the role of the market in the survival strategies of the poor. It starts by explaining how historians and contemporaries have defined poor people and why the role of the market has remained hidden in the strategies of the poorest. In a second part, it stresses the difficulties of entering the market for most men and women because of lack of funds in a Europe in which credit was theoretically prohibited. It then develops two examples. First the migrations of the high alpine valleys which show how poor regions survived and enriched themselves thanks to the market and to the elites who led the entire village into the market economy. The second example examines the role of women in the petty financial economy. Starting from the narrowness of the economic spaces given to women, it shows how the development of the market economy allowed them to enlarge their juridical autonomy through the creation of the category of the ‘merchant woman’ (femme marchande). It also shows  that the diverse exclusions that women had to bear led them into the grey economy,at the heart of informal credit circulations, into second-hand markets, and into pawnbroking. Thanks to the archives of the Bastille and to the testimonies of the time, it describes the activity of those women in Paris during the 18th century, entering, on one side, into roles as pawnbrokers and intermediaries and, on the other side, examining the role played by usurers in funding of their activity of peddling foodstuffs and the modalities through which they gave them their weekly credit. Finally, it shows how they utilized the official pawnshops and managed to earn a little money from them.

In the last part, using the example of two female resellers, it shows how the exclusionof the poorest from market started as early as in the 18th century because of the winning fights of the sedentary merchants who wanted to get rid of their competitionand because of the state grasping at all possibilities to impose new taxes.

 

Sheilagh Ogilvie, Markus Küpker und Janine Maegraith:
Shopkeepers and Their Wares in Rural Württemberg between 1600 and 1740
Retailing is widely regarded as an important aspect of the Consumer Revolution in early modern England and the Netherlands, where innovative retail practices lowered transactions costs for poorer consumers and brought new market wares within the reach of wider social strata. This article explores these hypotheses in the central European context through a micro-analysis of rural Württemberg in the seventeenth and early eighteenth centuries. In Württemberg, as in many other parts of early modern Germany, traditional corporative institutions provided mechanisms by which guilded shopkeepers and craftsmen could block entry into ‘their’ sector, impeding or excluding cheaper competitors such as women, labourers, Jews, foreigners, and peddlers who made consumer goods available to poorer customers at lower cost. By comparison with more precociously commercialized regions of early modern Europe, rural Württemberg between 1600 and 1740 continued to have a relatively low density of retailers. Analysis of shopkeepers’ inventories from a locality in the Württemberg Black Forest shows little sign of the growing retail specialization observed for English and Dutch localities after c. 1650. In this Württemberg locality, shopkeepers remained general traders and did not become specialists in particular lines of wares or bodies of customers. They consisted mainly of substantial individuals who were significantly more established, richer, and more literate than their customers, providing no indication that retailing was becoming accessible to less privileged or lower-cost practitioners. Their inventoried stock consisted of a relatively narrow number and range of wares, with few of the exotic stimulants or ready-made goods that characterized the Consumer and Industrious Revolutions in the Netherlands and England. Early modern rural Württemberg was lacking in neither entrepreneurship nor new consumer sensibilities, but the extent to which these could be expressed in more commercialized forms of production and consumption appears to have been constrained by characteristics of its social institutions.

Julie Marfany
Was there an Industrious Revolution in Catalonia?


This paper investigates the commercialisation of rural Catalonia mainly, though not exclusively, in terms of Jan de Vries’ hypothesis of an “industrious revolution”. It seeks to show that de Vries is wrong in claiming that only north-western Europe possessed the requisite features for such a revolution. Both commercial viticulture and proto-industrialisation allowed households in Catalonia to engage with markets in ways not previously possible, despite the existence of the kind of extended families characterised by strong ties that de Vries sees as incompatible with dynamic economic behaviour. In fact, within households, it was younger sons and women for whom market opportunities were greatest. An “industrious revolution” can be demonstrated in terms of an intensification of labour by households engaged in viticulture, spinning and weaving. New opportunities came with risks, however, and industrious behaviour essentially meant self-exploitation of family, particularly female, labour. Moreover, where Catalonia did differ from north-western Europe was in the changing consumption patterns that accompanied commercialisation: there was greater acquisition of a wider range of goods according to inventories, but on a modest scale compared with elsewhere.

 

Christine Aka
Tombstone or Phaeton. Peasant Consumption as Representation of Social Status in a German Marsh Region, 17th-18th centuries
In the costal region of the Wesermarsch, the so-called “Hausleute” constituted a peasant elite which dominated local communities and regional representative bodies. Due to their proximity to the North Sea, these owners of substantial farms were able to benefit from the booming markets for comestibles and cattle in the Netherlands, in England, and in the German seaports in the 17th and 18th centuries. The wealthy farmers developed a distinct commercial attitude, observable for instance in their readiness to organize their own trade by sea and by land. At the same time they showed a specific form of conspicuous consumption, which can be detected by surveying their material legacies in church buildings, in graveyards, and inside their opulent dwellings. Moreover, supplementary private sources reveal the circumstances under which these valuable artefacts were acquired. The article depicts a regional style of décor which, to some degree, followed contemporary aristocratic and gentrified patterns, but which is more adequately characterised as a hybrid culture of its own. It would be a promising task for further research to clarify to what extent the lower social strata of the Wesermarsch were able to participate in this rich material culture. This region may have belonged to the setting of the ‘industrious revolution’ in nearby Holland.

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