Jg. 51 – 2003 – Heft 2: Kollektivierung – Privatisierung. Transformation der ostdeutschen Landwirtschaft seit 1945
Editorial
Dieses Heft widmet sich der Landwirtschaft Ostdeutschlands in den Jahren von 1945 bis zur Gegenwart. In dieser Zeitspanne haben zwei politische Regimewechsel stattgefunden, vom Nationalsozialismus zur DDR und von der DDR zum vereinigten Deutschland. In allen politischen Systemen wurde die ostdeutsche Agrarwirtschaft durch massive politische Eingriffe umgesteuert, haben enorme Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse stattgefunden, wurden immense soziale Umwälzungen ausgelöst und sind traditionelle kulturelle Muster erodiert. Dabei waren die Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft – vor allem durch die staatliche Politik – mit zum Teil enormen Umbrüchen und Anpassungsanforderungen konfrontiert, die einen erheblichen Wandel der Wertorientierungen und des Verhaltens erzwangen. Die politischen Absichten und ideologischen Ziele, die den Eingriffen jeweils zugrunde lagen, sowie die Methoden und Instrumente, mit denen der Wandel im Agrarsektor durchgesetzt und vorangetrieben wurde, variierten erheblich. Sie unterschieden sich in vieler Hinsicht, besonders aber im Hinblick auf das Ausmaß ihrer Steuerung und Kontrolle durch rechtsstaatliche Verfahren. Auch haben sie in unterschiedlicher Weise in die Lebensgestaltung der Individuen eingegriffen.
Dieses Heft enthält agrarhistorische oder -soziologische Studien, in denen jeweils einzelne Entwicklungsabschnitte untersucht werden. Es handelt sich durchweg um wissenschaftliche Analysen, die sich ihrem Thema entweder empirisch oder stärker theoretisch nähern. Da jedoch die jüngere und jüngste Vergangenheit der ostdeutschen Landwirtschaft von massiven politischen Systemwechseln gekennzeichnet ist, werden die hier veröffentlichten Aufsätze und Berichte auch von der individuellen Perspektive beeinflusst. Dies ist bei Themen, die zur Zeitgeschichte gehören und ganz überwiegend in die Gegenwart hineinreichen, keineswegs ungewöhnlich.
Die Aufsätze zeigen nicht zuletzt, wie der Umbruch der Agrarwirtschaft und ländlichen Gesellschaft in der DDR sowie der Übergang zur Bundesrepublik vor dem Hintergrund zweier politischer Sozialisationserfahrungen unterschiedlich bewertet wird. Deshalb bietet das Heft nicht nur einen Überblick über neuere wissenschaftliche Studien zu einem auch in der Öffentlichkeit intensiv diskutierten Themenbereich, sondern ist auch ein Zeitdokument der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Interpretationen. Dafür danken die Herausgeber allen Autorinnen und Autoren, die bereit waren, ihre Beiträge zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen und damit aufschlussreiche Befunde ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu vermitteln.
Der Beitrag von Arnd Bauerkämper behandelt den tief greifenden Wandel des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüges, den die Bodenreform, der darauf folgende
Kollektivierungsprozess und der Übergang zu einer industrialisierten Landwirtschaft in Mecklenburg nach dem Zweiten Weltkrieg herbeiführten. Er legt die konzeptionell-politische Grundlage, den Verlauf und die sozioökonomischen Folgen des „sozialistischen” Weges in die Moderne dar. In langfristiger Perspektive wird zudem deutlich, dass die Zwangsmodernisierung auf dem Lande von fortwirkenden Traditionen gebrochen wurde.
Christel Nehrig wendet sich in ihrem Aufsatz der Frage zu, wie die DDR das Problem der unbewirtschafteten Flächen zu lösen versuchte. Diese nahmen insbesondere mit Beginn der 1950er Jahre zu und belasteten die schon angespannte Versorgungslage weiter. Die Autorin geht zeitlich und regional differenzierend den Ursachen für das Zustandekommen der freien Flächen nach und analysiert die wirtschaftlichen Bedingungen wie auch die Ergebnisse der von der SED-Führung entwickelten Lösungsmöglichkeiten. Davon ausgehend fragt sie nach den Belastungen für die Transformation von der bäuerlichen zur sozialistischen Landwirtschaft.
Im Beitrag von Dagmar Langenhan wird die Durchsetzung der zentral durch die SED-Führung verfügten Spezialisierung der mühsam gefestigten LPG zu Beginn der 1970er Jahre reflektiert. Sie untersucht, wie dieser neuerliche Strukturwandel durch die betrieblichen Führungskräfte aufgenommen wurde und weist an Beispielen nach, dass vor allem ihr Selbstverständnis und ihre Interessen die Anordnungen und Eingriffe der Herrschaftszentrale brachen und zumindest vorübergehend blockieren konnten.
Eva Barlösius und Claudia Neu widmen sich der Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft, die seit Mitte der 1990er Jahre als „Sonderfall“ der Transformation in das Blickfeld der Sozialwissenschaften rückte. Sie bilanzieren die Ergebnisse und Erklärungen der agrar-sozialwissenschaftlichen Forschung für diese Abweichung vom Pfad der nachholenden Modernisierung. Die Autorinnen gehen jedoch noch einen Schritt weiter, in dem sie anregen, die theoretische Modernisierungssackgasse zu verlassen und die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Agrarstrukturen nicht länger in der zeitlich gebundenen Terminologie von nachholender und vorauseilender Moderne zu beschreiben, sondern in der Begrifflichkeit von Andersartigkeit und Gleichförmigkeit.
Inhalt
Arnd Bauerkämper: Traditionalität in der Moderne. Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Mecklenburg nach 1945, S. 9
Christel Nehrig: Der Umgang mit den unbewirtschafteten Flächen in der DDR Die Entwicklung der Örtlichen Landwirtschaftsbetriebe (ÖLB), S. 34
Dagmar Langenhan: „Wir waren ideologisch nicht ausgerichtet auf die industriemäßige Produktion.” Machtbildung und forcierter Strukturwandel in der Landwirtschaft der DDR der 1970er Jahre S. 47
Eva Barlösius und Claudia Neu: Scheitern als Vorbedingung zum Erfolg – der Wandel der ostdeutschen Landwirtschaft nach 1989 Eine Bilanz der Transformationsforschung über den Agrarsektor, S. 56
Forum
Andreas Dornheim: Bodenreform und Siedlung Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Kontinuitäten und Brüche, S. 79
Siegfried Kuntsche: „Agrargenossenschaften in Vergangenheit und Gegenwart” Ein Kolloquium im Thünen-Museum, 14. und 15. Juni 2002 in Tellow. Ein Tagungsbericht, S. 85
Patrice Poutrus: 10 Jahre Forschungen zur ostdeutschen Agrarentwicklung und zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 1945 bis 1989. Bilanz und Aussicht. Ein Kolloquium des Instituts für Zeitgeschichte, 14. und 15. März 2003 in Berlin. Ein Tagungsbericht, S. 90
Heinrich Becker: In Memoriam Prof. Dr. Herbert Kötter, S. 94
Alois Seidl: Bericht über Vortragsveranstaltung und Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA) am 13. Juni 2003, S. 97