Jg. 62 – 2014 – Heft 1: Kunst im ländlichen Raum
Barbara Krug-Richter und Claudia Neu
Editorial
In der Stadt besuchen die Menschen vor allem Museen, um Kunst von berühmten Künstlern wie van Gogh, Monet, Warhol etc. zu sehen. Die Zeitungen berichten immer wieder von Publikumserfolgen, die vor allem rein quantitativ nach Besucherzahl und Lange der Warteschlange vor den großstädtischen Museen gemessen werden. „Hochkunst“wird hingegen nur selten in Verbindung mit ländlichem Raum gebracht. Wer erinnert sich an eine große Ausstellung in einem bayrischen Bergdorf oder auf einer Hallig? Diesen vermeintlichen Gegensatz von Land und Kunst aufgreifend, organisierte das österreichische Künstlerduo hoelb/hoeb 2006 im steirischen Leitersdorf die begehbare Installation „hosted“, in der vier Wochen lang 21 Haushalte ihre Privaträume zu Ausstellungsräumen machten und dort Kunst von Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Maria Lassnig oder VALIE EXPORT präsentierten.
Oder Rolf Wicker eröffnete im Rahmen von .,Kunst fürs Dorf- Dörfer für Kunst“ 2009 die Temporäre Kunsthalle Lelkendorf – die kleinste Kunsthalle Deutschlands. Dort präsentierte er über den Zeitraum von sechs Monaten wechselnde Ausstellungen, die lediglich durch ein Fenster des 12,5 Quadratmeter großen Häuschens betrachtet werden konnten. Die Hemmschwelle, die städtische Kunsttempel für mögliche Interessenten nicht selten hervorruft, hat Rolf Wicker auf nahezu geniale Art für das wenig kunstbeflissene Lelkendorfer Publikum aufgehoben, indem die Ausstellungsstätte gar nicht betreten werden konnte.
In beiden Beispielen wird das Dorf zum Performance Raum. Dies deutet bereits an, worum es in der jüngsten Kunst im ländlichen Raum geht: um partizipative Ansätze der Kunstproduktion. Kunst mit, nicht mehr Kunst für Landbewohner. Die in diesem Heft vorgestellten Arbeiten konzentrieren sich auf eine lose miteinander verbundene Gruppe „junger“ städtischer Künstlerinnen und Künstler, die nicht selten ihre Wurzeln auf dem Land haben und heute Ruralität auf unterschiedlichste Weise thematisieren. In der Zusammenschau fallen übergreifende Topoi auf: entlegene oder schrumpfende Räume sind als Experimentierfeld besonders attraktiv. Die Freiraume, aber zugleich auch die besondere soziale Situation, die der Rückzug öffentlicher Institutionen, Güter oder Dienstleistungen hinterlässt, eröffnen neue Handlungsspielraume für Partizipation, jenseits der eingeübten Muster von Kunstbetrachtung und -konsum. Die Künstlerinnen und Künstler schaffen durch ihre Kunstprojekte Begegnungsmöglichkeiten und erzeugen Öffentlichkeit ‑ in einem Raum, in dem gerade dies so oft fehlt. Sie fragen nach dem Spannungsverhältnis zeitgenössischer Kunst und ländlicher Lebensrealität. Kunstwerke, aber auch neue Produkte wie Leinen, Seife oder Porzellan entstehen, die anschließend im International Villageshop der Künstlerinnengruppe „myvillage.org“ die Welt bereisen. Nicht zuletzt bedienen sich die Künstlerinnen und Künstler sozialwissenschaftlicher Methoden in der Kunst. Ethnographische (Selbst-)Portraits kommen hier ebenso zum Einsatz wie das klassische Interview.
Das vorliegende Heft selbst überschreitet die vielleicht als viel zu scharf empfundene Trennlinie zwischen Wissenschaft und Kunst. Die einzelnen Artikel sind reich bebildert und neben den Wissenschaftlerinnen Sigrid Ruby, Barbara Krug-Richter und Claudia Neu kommen die Künstlerinnen und Kuratorinnen Antje Schiffers, Anne Kersten sowie Gabriele Konsor selbst zu Bild und Wort. Sigrid Ruby stimmt mit den übrigen Autorinnen überein, dass „Kunst und ländlicher Raum“ ein Thema ist, das bislang weder in der akademischen Kunstgeschichte noch im Kunstausstellungswesen und der Künstlerinnen- und Künstlerausbildung mehr als nur ausschnitthaft behandelt wird. Ruby sondiert in ihrem Beitrag das kunstgeschichtliche Spektrum des Themas epochen- und medienübergreifend, aber beschränkt auf den europäischen Kulturraum seit dem Spätmittelalter, um einen systematisch und chronologisch geordneten Überblick „Kunst und ländlicher Raum“ zusammenzustellen. Barbara Krug-Richter wirft einen kulturanthropologischen Blick auf die (filmischen) Arbeiten von Schiffers/ Sprenger „Ich bin gerne Bauer und möchte das auch gerne bleiben“. Schiffers/ Sprenger haben in den vergangenen Jahren neunzehn Projekte in ganz Europa durchgeführt, in denen nicht nur die Bauernfamilien selbst Zeugnis über ihre Leben und ihr Bauernverständnis ablegen, sondern auch die Künstler ihrerseits den Familien ein Kunstwerk als Dank überlassen. Krug-Richter kommt abschließend zu dem Urteil, dass ethnographisch arbeitende Sozialwissenschaftler und ethnographisch arbeitende Künstler sich bisher zu wenig wahrnehmen, obwohl die Berührungspunkte und die produzierten Ergebnisse fruchtbar für beide Disziplinen sein konnten. Claudia Neu fragt in ihrem Artikel danach, inwieweit Kunst nicht nur auf gesellschaftliche Fragen wie Entleerung ländlicher und Verlust öffentlicher Raume reagiert, sondern selbst funktionalisiert wird. Was soll Kunst im ländlichen Raum leisten? Welche Erwartungen werden an sie gestellt und sind diese überhaupt zu erfüllen? Die Künstlerin Antje Schiffers präsentiert stellvertretend für die Gruppe myvillages.org eine Bilderschau über laufende Projekte.
Partizipative bildende Kunst ist seit den 1990er Jahren weit mehr als ein Trend, wenngleich es vor allem Arbeiten in urbanen Kontexten sind, die städtisches Leben thematisieren und gestalten wollen. Ländliche Raume werden zuweilen haltlos idyllisiert (Sehnsuchtsort Land, Landlust) oder problematisiert (Verödung, Wüstung), in ihrem Veränderungs- und Aktivitätspotential jedoch selten gesehen oder ernst genommen. Hier setzt partizipative Kunst an. Dialoge ermöglichen, Konflikte zulassen, Visionen entwickeln und die Arbeit an der Zukunft gemeinsam gestalten.
Inhalt
8 Editorial
11 Sigrid Ruby: „Die Dorfbewohner fanden wir gleich sehr zutraulich …“: Kunst und ländlicher Raum
34 Claudia Neu: Partizipative bildende Kunst im öffentlichen Interesse ‑ zwischen Indienstnahme und Möglichkeitsraum
43 Barbara Krug-Richter: Ethnographien der Landwirtschaft? Kulturanthropologische Perspektiven auf ein Kunstprojekt
69 Antje Schiffers: Myvillages at Work
78 Abstracts
FORUM
80 Gabriele Konsor: Hüpfburgen zu Pflugscharen! Begriffe von zeitgenössischer Kunst auf dem Land
88 Anne Kersten: Ländlicher Raum, Kunst und Agrarpolitik
REZENSIONEN
Abstracts
Sigrid Ruby: „Die Dorfbewohner fanden wir gleich sehr zutraulich …“: Kunst und ländlicher Raum
The rural in the arts and the arts in the rural area have been rather neglected issues of art historical research. This paper, on the one hand, seeks to survey the status quo of knowledge and academic discourse pertaining to the subject and, on the other, tries to outline recent developments in the field. It delineates how the rural scene, the farm life and agriculture have been motives and themes in the visual arts from the European Late Middle Ages to the modern era, thereby exposing recurring phenomena in the realm of iconography and aesthetics as well as art historical discussion and interpretation. Perceiving the rural as otherness while at the same time colonizing and visually appropriating it appear to be decisive aspects of its artistic rendering and academic classification likewise. This observation applies to the arts in the rural area, i.e. on-site, too. Whereas historical artifacts produced by villagers are depreciated as folk art and considered research material for ethnographic studies only, artists’ colonies in the rural area, which for the first time occurred in the early 19th century, prove the prolonged city-countryside-dichotomy and its traditionally strong hierarchical bias. However, and interestingly so, the present trend towards the “Künstlerdorf” (“artists’ village”) opens up new vistas of dealing with the subject and – most notably – demonstrates social practices that go along with vanguard concepts of participatory art by revitalizing the myth of village community.
Claudia Neu: Partizipative bildende Kunst im öffentlichen Interesse – zwischen Indienstnahme und Möglichkeitsraum
‚Participation‘ – the new buzzword! Since the 1990th ‚participation‘ is a new trend in art production. Participatory or participative art is an approach to produce art in which the audience is engaged directly in the creative process, allowing them to become co-producer, co-authors, editors, and observers of the artwork. Therefore, this type of art is being made at the intersections of traditional art disciplines (sculpture, drawing) and new forms of artwork (cooking, social engagement). However, is participative art just a funny game, to entertain people? Or, is it all about politics? This questions in mind, we could ask, is participative art just a placebo for dying rural landscapes? What kind of effect show participative artworks in (remote) areas? Limits and potentials of participative art practices in rural areas are being discussed in this article.
Barbara Krug-Richter: Ethnographien der Landwirtschaft? Kulturanthropologische Perspektiven auf ein Kunstprojekt
This paper deals with an art project of the German artists Antje Schiffers and Thomas Sprenger which took place in the years from 2000 to 2009. Antje Schiffers offered to peasants in various European countries to paint their farms within a week. In exchange for the paintings she asked the farmers to film and comment on their farm and their work also within one week. Her husband Thomas Sprenger edited the videos, some of them were shown in a village context. The results of this project are on the one hand paintings of various European farms, on the other hand videos which show peasant life and farm work in different European contexts. It were the peasants themselves , however, to make the decision which parts of their daily life and work should be painted and filmed. For this reason the films also create images of farming and farmers. The artists call the results of their ‘ field research’ and especially the films something like an ‘autoethnography’. Especially these images of farming and farmers are the topic of research in this essay.
Antje Schiffers: Myvillages at Work
Myvillages (until 2013 myvillages.org) is an international artist initiative founded by Kathrin Böhm (D/UK), Wapke Feenstra (NL) and Antje Schiffers (D) in 2003. The collective aims of Myvillages are given by the contextual nature of their individual practices and the autobiographical fact that they all grew up in small villages. Now they live in London, Rotterdam and Berlin. The participatory art practice – which they share in common – presents an utopian approach to community building. Böhm/Feenstra/ Schiffers frame the rural as a place of cultural production bringing it into the discussion of contemporary arts. The compilation of photos, presented in the article, shows the work of myvillages.org during the last years.
Gabriele Konsor: Hüpfburgen zu Pflugscharen! Begriffe von zeitgenössischer Kunst auf dem Land
Anne Kersten: Ländlicher Raum, Kunst und Agrarpolitik