Jg. 61 – 2013 – Heft 2: Pflanzentransfer in der Frühen Neuzeit
Editorial
Die Orts- bzw. Standortbezogenheit von Landwirtschaft ist eine offensichtliche Tatsache. Ihre privilegierte Wahrnehmung kann daher nicht erstaunen. Sie spielt(e) allerdings nicht nur im Alltagsverständnis eine herausgehobene Rolle, sondern hat als Paradigma v.a. in Deutschland lange die Diskurse in Agrargeschichte und –soziologie nahezu ausschließlich bestimmt. Extremvariante dieser Erzählung ist bekanntlich das Konstrukt des „deutschen Bauern“, einer über Generationen auf ihrem Hof ansässigen, quasi in der Scholle verwurzelten Figur, die sich bestens für romantische Projektionen verschiedener Provenienz und Ausrichtung eignete.
„Der Bauer“ ist zwar längst nicht mehr die Leitfigur agrarhistorischer und –soziologischer Narrative. An seine Stelle ist auch in Deutschland die Pluralität ländlicher Akteure getreten, deren Interaktion miteinander und mit anderen sozialen Kräften sich als wesentliches Element historischen und sozialen Wandels herausgestellt hat.Die Verabsolutierung der Standortabhängigkeit ist dadurch jedoch nicht vollständig durchbrochen worden. So hat nicht zuletzt die Mikrogeschichte wesentlich zur Aufhellung sozialer Vielfalt beigetragen, durch die Konzentration auf „das Lokale“ befestigte sich jedoch auch – weitgehend unbeabsichtigt – hier und da der Eindruck von der Priorität des „Standorts“ und seines kontextuellen Bedingungsgefüges.
Mit dieser Ausgabe der ZAA möchten wir auf die gegenwärtige Notwendigkeit hindeuten, auch die deutsche Agrargeschichte global zu denken und insofern zur Korrektur bisheriger Paradigmen beitragen. Der „global turn“, der nun auch unser Fach erfasst, ist geeignet, das Augenmerk auf die andere Seite zu lenken, die Transferprozesse, die Landwirtschaft an zahlreichen Stellen erst ermöglichten und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erheblich modifizierten. Tatsächlich ist der Transfer von Nutzpflanzen in den letzten Jahren schon stärker in den Fokus der internationalen Forschung geraten.1 Man braucht nur daran zu erinnern, dass diejenigen Getreidearten, die in Mittel- und Westeuropa über Jahrtausende die Hauptnahrungspflanzen darstellten, Gerste und Weizen, orientalischen Ursprungs sind. Bekanntlich gelangten sie erst gegen Ende des Neolithikums aus dem Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“ nach Europa, wobei in diesem „Paket“ auch eine große Anzahl von Un- bzw. Beikrautsamen enthalten waren, von denen einige die Grundlage weiterer Nutzpflanzen bildeten, allen voran Roggen und Hafer.2 Transfers von Pflanzen und Tieren fanden bekanntlich nicht nur im Neolithikum statt. Es folgten mehrere Wellen, von denen einige Europa nur indirekt berührten, so z. B. der Austausch zwischen Indien / Indonesien auf der einen und Ostafrika auf der anderen Seite.
Das vorliegende Heft betrachtet nicht die älteren Transferprozesse, sondern geht von einem Kontinuum von 1500 bis heute aus, setzt also mit der großen Welle ein, die unter dem Namen „Columbian Exchange“ mittlerweile in die Lehrbücher Eingang gefunden hat. Den hier vertretenen Autoren geht es nicht allein um eine Variante der Wissensgeschichte von Experten4 oder der Wissenschaftsgeschichte, sondern die Perspektiven richten sich stark auf tatsächliche Praktiken vor Ort und die Relevanz von Transfers für die wirtschaftliche Produktion.5 Damit weitet sich der Blick auf die säkular vorhandenen Interaktions- und Kommunikationsräume, auf die Geschichte von Kolonialismus, europäischer Expansion und überhaupt die Machtbeziehungen, die diesem Austausch vielfältig zugrunde lagen.6 Konkret interessieren die personellen und institutionalisierten Netzwerke und Medien, die ihn ermöglichten und ihrerseits in bestimmte Richtungen lenkten.
Ferner wissen wir schon von bisherigen Studien zu agrarischen Innovationen, dass es nicht allein um eine Untersuchung des Transfers von Wissen und Gütern gehen kann, sondern immer um Adaption vor dem Hintergrund von lokalen Wertesystemen. Uns als Agrarhistoriker interessiert nicht nur eine solchermaßen revidierte Wissensgeschichte von Landwirtschaft, sondern der tatsächliche Einbau der vermittelten Neuerungen in die bestehenden Ordnungen. Empirisch ist in der Globalgeschichte seit der Frühen Neuzeit vorrangig der Handel mit Luxusgütern und Rohstoffen beachtet worden, die Ströme von „Bildern“ und wechselseitigen Vorstellungen und Stereotypen im (freiwillig und erzwungenen) Kulturkontakt. Auch die Geschichte der Nutzpflanzen, so meinen wir, kann dazu beitragen, sowohl die Agrargeschichte globalgeschichtlich zu erweitern wie die Globalgeschichte mit neuen Komplexen anzureichern.
Mark Häberlein und Michaela Schmölz-Häberlein in „Transfer und Aneignung außereuropäischer Pflanzen im Europa des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Akteure, Netzwerke, Wissensorte“ untersuchen die Bereicherung der altweltlichen Flora durch Importe aus der „Neuen Welt“. Sie nehmen – neben der Kartoffel – Pflanzen wie die Sarsapilla (Stechwinde) und die Sonnenblume unter die Lupe, die in den Darstellungen der großen Transferprozesse bisher höchstens in den Fußnoten zu finden sind. Dies hat zum einen den Vorteil einer erheblichen Horizonterweiterung. Zum anderen gestattet die exakte, fast dichte Beschreibung paradigmatisch eine genauere Analyse der Prozesse. „Transfer“ ist demnach kein ungestaltetes Geschehen, sondern zerfällt in verschiedene Etappen, von denen die aktive Aneignung im Mittelpunkt der Studie steht. Damit werden verschiedene Akteursgruppen erkennbar, nicht zuletzt auch die Bedeutung der Lokalität, die – bei aller Relativierung – selbstverständlich zu den Basisfaktoren von Landwirtschaft gehört. Ebenso geht es in dem Beitrag um die Orte des botanischen Wissens.
Die folgenden Aufsätze zentrieren jeweils eine bestimmte Nutzpflanze. Werner Troßbachs Beitrag über „Mais im 16. Jahrhundert. Ein europäischer Blick auf den Start einer globalen Karriere“ zeigt, wie sich der Mais von einer botanischen Kuriosität zur Feldfruchtpflanze in Europa und anderen Weltteilen entwickelte. Hierbei waren spezifische und komplexe Transferwege ebenso wichtig wie andere Einflussfaktoren: klimatische und andere natürliche Bedingungen, die Entwicklung von Sortenvielfalt, ökonomische Interessen und Erwägungen sowie wissensbedingte Faktoren. Historisch-geographisch ergibt sich nicht nur eine ständige Ausdehnung des expandierenden Verbreitungsraumes, sondern zeigen sich auch die Wichtigkeit vielfältiger transatlantischer Transfers wie die besondere Bedeutung von Pionierregionen.
Der Spur des Zuckers folgt die Darstellung von Reinhard Wendt in seinem Beitrag über „Zucker – zentrales Leitprodukt der Europäischen Expansion“. Er legt in paradigmatischer Weise Triebkräfte, Strukturen und Folgen der Europäischen Expansion offen. Im Wesentlichen geht um Aneignungsprozesse verschiedener Art: einmal um Transfer und Aneignung der Pflanze, dann die Aneignung entsprechender Naturräume und die Aneignung von Arbeitskräften. Am anderen Ende der Kette steht etwas, was man die Aneignung des Geschmacklichen und damit einen Transferprozess sui generis nennen könnte. Damit aber wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in den europäischen Staaten ein innerer Transferprozess stattfinden und Rohrzucker schließlich durch Rübenzucker substituiert werden konnte.
Der Siegeszug der Soja-Pflanze begann erst später in der Neuzeit. Ines Prodöhl zeigt in „Die Dynamiken globaler Vernetzung: Mandschurische Sojabohnen auf dem Weltmarkt“, wie die ursprünglich im Norden Chinas domestizierte Bohne, die Jahrtausende lang ein Grundelement chinesischer Ernährungssysteme war, im 19. Jahrhundert zuerst nach Nordamerika gelangte, ehe sie zur Eroberung des südamerikanischen Kontinents ansetzte. Auf ihrer Grundlage wurden Wertschöpfungsketten etabliert, die in gewisser Weise an das Vorbild des Zuckers erinnern. So basiert der massenhafte luxuriöse Fleischkonsum in den USA und v.a. in Westeuropa auf problematischen Arbeitsverhältnissen, darüber hinaus auf der Abholzung des Regenwaldes und dem rücksichtslosen Einsatz risikoreicher Technologien. Die Nachteile hat in besonderer Weise die Bevölkerung vor Ort zu tragen, sie werden zunehmend aber auch als globale Umweltprobleme spürbar.
Kommen Gewaltaspekte bei Zucker und Soja erst im Aufbau von Wertschöpfungsketten zum Tragen, so nahm derjenige „Transfer“, den Susanne Heim in „Pflanzentransfer unter Gewaltbedingungen. Eine kurze Geschichte des Kautschuk“ betrachtet, schon von der Intention her den Charakter von Raub und Ausbeutung an. Diese Geschichte ist ebenfalls aufs Engste mit der von Kolonialismus und Europäischer Expansion verbunden, mit der Geschichte der Akkumulation von Kapital und Wissen über die optimierende Verwertung der Pflanze. Zugleich weist die Verfasserin auf die Arbeits- und LLebensbedingungen der Kautschukarbeiter und ihrer Familien hin. Sie verknüpft ihre Darstellung mit den Kriegsbedingungen des 20. Jahrhunderts und der amerikanischen intervenierenden Außenpolitik sowie mit der des industriellen Kapitalismus, bzw. der Auto- und Reifenindustrie in den Metropolen.
Werner Troßbach/ Clemens Zimmermann
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Mark Häberlein und Michaela Schmölz-Häberlein: Transfer und Aneignung außereuropäischer Pflanzen im Europa des 16. und frühen 17. Jahrhunderts: Akteure, Netzwerke, Wissensorte
Werner Troßbach: Mais im 16. Jahrhundert. Ein europäischer Blick auf den Start einer globalen Karriere 43
Reinhard Wendt: Zucker – zentrales Leitprodukt der Europäischen Expansion
Susanne Heim: Pflanzentransfer unter Gewaltbedingungen – Eine kurze Geschichte des Kautschuks
Ines Prodöhl: Die Dynamiken globaler Vernetzung: Mandschurische Sojabohnen auf dem Weltmarkt
ABSTRACTS
FORUM:
Gloria Sanz Lafuente: Historia Agraria Die Zeitschrift der Spanischen Gesellschaft für Agrargeschichte
Johannes Bracht und Gunter Mahlerwein Tagungsbericht: „Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft“. Jahrestagung der Gesellschaft für Agrargeschichte und des Arbeitskreises Agrargeschichte im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen am 14./15. Juni 2013
Stefan Brakensiek: Bericht von der Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Agrargeschichte e.V. am 15. Juni 2013 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen
REZENSIONEN
Abstracts
Mark Häberlein and Michaela Schmölz-Häberlein
Transfer and appropriation of extra-European plants in sixteenth- and early seventeenth-century Europe: actors, networks, sites of knowledge
European expansion in the 16th and early 17th centuries initiated the transfer of numerous American and Asian plants to Europe. While the processes of transfer and appropriation involved a large number of actors – princes, nobles, physicians, pharmacists, merchants, clergymen, diplomats and gardeners – only a limited number of ‘exotic’ plants actually became significant as food crops, medicinal plants and aesthetic objects. To illuminate these selective processes of appropriation, the essay examines three protagonists of intercontinental plant transfer – the Sevillan doctor Nicolás Monardes, the Dutch scholar Carolus Clusius and the English pharmacist John Parkinson – and their communication networks. Furthermore, it surveys the major spaces and media of knowledge circulation (gardens and herbals) as well as the diffusion of three important New World plants: the sarsaparilla root, the potato and the sunflower.
Werner Troßbach
Maize in the 16th century. The start of a global career seen from a European point of view
Being cultivated as a food for the slaves on the passage to America since the early 1530s, by 1600 maize had turned into a staple on the African Gold Coast. In Portugal, Spain, Italy, and Germany, maize was known as a garden crop since the early 1520s. As a field crop, however, it appeared not earlier than around 1600 – with regional forerunners in North-Eastern Italy. For successful field cultivation under European daylight conditions the importation of Northern and Southern American corn varieties was crucial. They began to reach Europe since the late 1520s. The articles suggests to regard the successive transfer of different corn varieties to Europe as an integral part of a global distribution process driven by the expansion of the Portuguese and the Ottoman Empires.
Reinhard Wendt
Sugar – a leading product of the European Expansion
The article deals with the global transfer of sugarcane from Asia via the Mediterranean and the islands off the west coast of Africa to Brazil and the Caribbean. The spread of this plant from continent to continent accompanied and stimulated the European Expansion. The article highlights how planting, harvesting and processing of sugarcane was inextricably linked to the developing of plantation economies, the transatlantic slave trade and the system of indentured labor. Over time Europe took possession not only of a plant, but also of areas of production, of work force and ZAA-eventually of the sweet taste the sugar cane gave. This last step of appropriation is to be seen in the substitution of cane through beets and through chemically manufactured Saccharin. Fine white sugar from cane as well as from beets was produced mainly in Europe. This stimulated industrial development, changed consumer habits and life styles and contributed at the same time to the asymmetrical integration of the southern and northern hemisphere into the world market.
Susanne Heim
Plant transfer under violent conditions. A short history of caoutchouc
For more than a century and a half rubber plants have played a prominent role on the growing global market. This article focuses on the history of three rubber containing plants and the change of ecological, economic and social conditions caused by transferring them. The export of seeds from the Brasilian rain forest to Southeast Asia smoothed the way to domestication of the rubber tree and the establishment of plantations. The transfer converted the plant into a subject of systematical breeding and thus alienated it from its wild Brasilian relatives. In the United States dependency on British controlled plantations fostered the search for alternative rubber sources. In war times rubber turned into a resource of strategic significance and transport routes became hard-fought territory. This increased time pressure on the search for domestic rubber plants in the U.S. as well as in Germany. Haste however, and a violent regime of production control entailed the failure of the attempts to develop an out-of-the-way plant into a reliable source of raw material.
Ines Prodöhl
The dynamics of global networks: Manchurian soybeans on the world market
This article traces why and when the Western demand for soy emerged and also how the plant subsequently shaped Manchuria, a semi-colonized region in northeast China, where it became a staple crop for export. In the early 1900s, when soy‘s oilyielding potential was discovered, European oil mills took to using it on a large scale.. The comparatively cheap oil was useful for manufacturing a variety of goods, and especially margarine, shortening, and beauty products. Trade in Manchurian-grown soybeans flourished in the 1920s with the dynamic flow of goods, ideas, and people generating differing consumer habits and needs. But soy also proved valuable in the Depression-shaken world of the 1930s due to its low price. It was a globalized crop, connecting people of various regions but also separating them because of their varying uses of it.