Jg. 61 – 2013 – Heft 1: Demographischer Wandel in ländlichen Gesellschaften – Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Editorial
Zu Beginn des neuen Jahrtausends brach in Deutschland eine Debatte über den demographischen Wandel los. Geradezu urplötzlich rückte der sich bereits seit vielen Jahrzehnten vollziehende demographische Wandel – der Rückgang der Geburtenrateund die Erhöhung der Lebenserwartung – ins Zentrum der medialen und politischen Öffentlichkeit. Die Debatte bediente sich zumeist einer dramatisierenden Spracheund zitierte Schreckensbilder. Kurz: Der demographische Wandel wurde als Katastrophe in Szene gesetzt, als etwas völlig Neues und schicksalhaft für die gesamte gesellschaftliche Zukunft dargestellt. Soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Reichtum, kulturelle und künstlerische Kreativität – all das wäre bald unwiederbringlich verloren, weil dies mit der künftigen Bevölkerungsstruktur unvereinbar sei. Man kann darin eine „Demographisierung des Gesellschaftlichen“ sehen, weil gesellschaftliche Phänomene zu demographisch bedingten Fakten umgedeutet wurden.
Die dramatisierenden Schilderungen des demographischen Wandels und die damit verbundenen Schreckensbilder wurden vielfach kritisiert, insbesondere die hierdurch vorgenommene Unterscheidung in Regionen „mit und ohne Zukunft“, die oft eine eigene Wirkungsmacht entfaltete. Die öffentliche Aberkennung von Zukunftschancen blieb für die so klassifizierten Regionen meist nicht folgenlos. Besonders ländliche Regionen waren davon betroffen; viele von ihnen wurden zusätzlich als „peripherisiert“ bezeichnet, womit ihre Abkopplung von den dominanten gesellschaftlichen Entwicklungen charakterisiert und damit nochmals ihre Zukunftsfähigkeit bestritten wurde. Der demographische Wandel wurde auf diese Weise geradezu „territorialisiert“ – als Frage der geographischen Lage ausgelegt –, obwohl de facto hauptsächlich wirtschaftliche Potentiale ausschlaggebend dafür sind, wie sich Regionen entwickeln. Entsprechend setzte sich bei vielen die Überzeugung durch, dass die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in erster Linie ein „Problem“ der ländlichen Regionen sei, weshalb vor allem für sie Antworten und Lösungen benötigt würden. Damit war eine Sichtweise etabliert, den demographischen Wandel zum Anlass zu nehmen, das Verhältnis zwischen Metropol- und von ihnen entfernt gelegenen ländlichen Regionen raum- und regionalpolitisch neu auszurichten und umzugestalten.
Seit einigen Jahren sind die Überzeichnungen und Schreckensbilder in den Hintergrund gerückt. Ein besonders deutliches Zeichen dafür ist, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Jahr 2013 zum Wissenschaftsjahr „Die demografische Chance“ ausgerufen hat. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die demographischen Herausforderungen bewältigt sind, im Gegenteil: In den als peripher bestimmten ländlichen Gebieten stellen sie sich immer drängender. Dass diese nicht an der Wissensökonomie partizipieren werden, ihre „junge“ Bevölkerung aufgrund mangelnder Erwerbschancen, ausgedünnter Infrastrukturen und zusätzlicher Benachteiligungen weiterhin abwandern wird und damit die Überalterung weiter zunimmt, ist nicht mehr Prognose, sondern Realität geworden. Zur praktischen Bewältigung sind Horrorszenarien wenig nützlich, vielmehr bedarf es wissenschaftlicher Analysen über die Folgen des demographischen Wandels und den Umgang damit. Dies erklärt, weshalb eine thematische und perspektivische Verlagerung stattgefunden hat: von bloßen Darstellungen der veränderten Bevölkerungsstrukturen hin zu ihrer sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingtheit und ihren Folgen einerseits und zu Handlungswissen andererseits. Infrastrukturen bilden dabei ein zentralesThema.
Nachdem nun auch die Hochkonjunktur der wissenschaftlichen Studien zum gegenwärtigen demographischen Wandel überschritten ist, insbesondere aber, seitdem diese Thematik zum Gegenstand praktischen Handelns geworden ist, besteht nun die Gelegenheit, sich dem Forschungssujet mit mehr Distanz zu nähern. Dabei werden vor allem die Einengungen der Analyse- und Interpretationsmöglichkeiten deutlich,die daraus resultierten, dass die gegenwärtigen Veränderungen der Bevölkerungsstrukturbeinahe ausschließlich entlang von „Zukunftsfähigkeit“ bewertet wurden, weshalb die „Zukunft“ den Ausgangspunkt der Betrachtungen bildete. Die Folge war eine unfassbare Geschichtsvergessenheit der öffentlich geführten Debatte, aber auch vieler wissenschaftlicher Analysen. Nur so lässt sich vermutlich erklären, dass die Schreckensbilder und Horrorszenarien vielfach verfingen und selbst die sogenannte Qualitätspresse diese Überzeichnungen zitierte und einen schrillen Ton anschlug. Dieses Themenheft setzt deshalb die drei Zeitbegriffe – Geschichte, Gegenwart und Zukunft – zueinander in Beziehung.
Die historische Dimension blieb in den gänzlich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrierten demographischen Debatten und Studien gemeinhin völlig unbeachtet, obwohl sie sich eigentlich aufdrängt. Auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens stellt die Geschichte einen Erfahrungsraum bereit und ein Labor dar, wie mit gewaltigen demographischen Wandlungsprozessen in der Vergangenheit umgegangen wurde, sei es der mittelalterliche Wüstungsprozess, sei es die gewerbliche Verdichtung in der Frühen Neuzeit in ländlichen Räumen, die etwa durch die Protoindustriegegen die Urbanisierung wirkte. Oder man denke an die Abwanderung aus ländlichen Regionen Nordostdeutschlands in der Phase der Hochurbanisierung, deren Folgen für die Landgebiete so gut wie nie von der Geschichtswissenschaft behandelt wurden. Vielmehr stand in den Untersuchungen das Wachstum der Städte und ihrer Umlandgemeinden im Vordergrund. Die Rück- und Fernwirkungen des Urbanisierungsprozesses auf die ländlichen Regionen haben in diesen Gebieten räumliche Umschichtungen und sozialen Wandel ausgelöst, teilweise auch sehr kleinteiliger Art. Ebenso ist zu beachten, dass kulturelle Urbanisierungsprozesse die Qualität des Lebens auf dem Land auch dort veränderten, keine Abwanderung zu beobachten war.
Auf der Ebene der Diskurse wie der Forschungen über den demographischen Wandel eröffnet die historische Dimension weitere Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten. Hier ist besonders nach dem Begriffs-Syndrom der Landflucht zufragen. Die Landfluchtdebatte im späten Kaiserreich war extrem ideologisch, antiurban und biologistisch aufgeladen sowie dominiert von den wirtschaftlichen Interessen der Marktbetriebe. Bereits damals wurde über unerwünschte Zuwanderung diskutiert, nämlich die von ausländischen Wanderarbeitern. Hochinteressant ist die Abwanderungsdebatte im Nationalsozialismus, da die einschlägigen Fach-Forscher sich nicht darauf einigen konnten, wie bedrohlich sie diese eigentlich finden sollten. Es gab hier durchaus differenzierte Konzepte bis hin zu Bestrebungen, die Agrarbevölkerung durch kulturelle Urbanisierung auf dem Land zu halten. Schließlich ist nicht zu vernachlässigen, dass es schon einmal in der (alten) Bundesrepublik eine eingehende Debatte in verschiedenen Disziplinen über demographischen Wandel im ländlichen Raum gegeben hat. Dazu gehören die äußerst zahlreichen Dorfstudien der 1950er und 1960er Jahre, bei denen neben beruflichem und sozialem Wandel auch Migrationsprozesse zwar relativ nüchtern geschildert, wohl aber mit Untertönen des Bedauerns über Ent-Agrarisierung diskutiert wurden. Hierbei ging es unter anderem um Abwanderungsmotive der jüngeren Generation. Etwas später kamen dann Migrations- und Mobilitätsstudien hinzu, die Migration keineswegs verurteilen mochten ,jedoch die Perspektive einnahmen, die kleinen bäuerlichen Betriebe zu stützen und Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu schaffen. In einer Skizze von Ulrich Planck aus dem Jahr 1978 wurde vorhergesagt, dass Abwanderung mit der Folge laufender Strukturverschlechterung dramatisch zunehmen würde, was aber nicht eintraf. Hier herrschte noch die Sichtweise der nachholenden Modernisierung sowie Zerstörung von Sozialität vor, gleichzeitig wurde aber prognostiziert, dass der ländliche Raum eben neue Funktionen erhalte, zum Beispiel als Erholungslandschaft und als Wohnraum naturorientierter Menschen.
Unterhalb der Ebene der Diskurse und der wissenschaftlichen Perspektivierungen haben sich historisch relativ stabile Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Interpretationsmuster herausgebildet. Man kann sie als die Semantik der Demographie bezeichnen, für die überaus positive oder negative Aufladungen typisch zu sein scheinen. „Schrumpfung“ und „Landflucht“ sind Beispiele für negative und „Anstieg“ und „Wachstum“ für positive Assoziationen. Sie zeigen, dass diese begrifflichen Aufladungenstets relational bestimmt sind und ein Muster bilden, das aus Oppositionsbestimmungen besteht. So werden Bevölkerungsgewinne durch Zuwanderung und Geburtenanstieg im Allgemeinen als Zukunft, als Eröffnung von Entwicklungschancen interpretiert, sofern die Zuwächse nicht zu rapide verlaufen. Dagegen werden Bevölkerungsverluste, etwa durch Kriege, Katastrophen oder Abwanderungen, als Niedergang beschrieben und als Krisenphänomen bewertet. Krise meint hier in Anlehnung an Reinhart Koselleck die Wahrnehmung bzw. Feststellung, dass eine Epoche zu Ende geht, etwas Neues und Unbekanntes bevorsteht oder die Zukunftals gefährdet gilt, was durchaus mit aktuellem Handlungsdruck einhergehen kann. Eigens für die ländlichen Räume gibt es einen ganzen Kanon an Negativbegriffen, die die Folgen von Bevölkerungsverlusten als gravierende Krise darstellen: Wüstung, Landflucht, Wildnis, um nur einige zu nennen. Darin spiegelt sich, dass seit dem Epochenumbruch von der feudalen Agrar- zur wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft bei gravierenden gesellschaftlichen Wandlungen – wie der gegenwärtigen zur Wissensgesellschaft – stets von Neuem die Bedrohung wächst, dass die ländlichen Regionen daran nicht partizipieren werden.
Dies verdeutlicht nochmals, dass es unzureichend ist, einzig Abwanderungsprozesse aus bestimmten Regionen zu betrachten. Immer sind diesen die Zuwanderungsprozess ein Mikroräumen gegenüberzustellen. So zeigt sich, dass es sich keineswegs nur, wie es oft polemisch hieß, um „Landflucht“ handelt, sondern um eine Differenzierung der ländlichen Regionen selbst, die wiederum im Zuge großflächiger Entwicklungsdifferenzierung seit mindestens zwanzig Jahren stattfindet. Die fünf Aufsätze in diesem Heft analysieren solche Differenzierungsprozesse und betrachten neben Ab- auch Zuwanderung, wenngleich unter teilweise ganz anderen historisch gesellschaftlichen und räumlichen Konstellationen. Weiterhin ist zu beachten, dass der gegenwärtige demographische Wandel insbesondere durch Veränderungen der Altersstruktur gekennzeichnet ist – unerfreulich ausgedrückt: durch Überalterung. Diese erwächst einerseits aus dem Rückgang der Geburtenrate bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebenserwartung, repräsentiert damit ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, und andererseits daraus, dass bei den Zu- und Abwanderungen bestimmte Altersgruppen überrepräsentiert sind, wodurch sich die Altersstruktur kleinräumlich verändert.
Eva Barlösius/Clemens Zimmermann
Editorial: S. 8 – 12
Matthias Asche: Migrationsregime und Migrationssysteme nach dem Dreißigjährigen Krieg – Zur Bedeutung kriegsbedingter Einwanderungsvorgänge für die (Re-)Konstruktion und den Wandel ländlicher Gesellschaften am Beispiel Norddeutschlands S.13 – 26
Anja Reichert-Schick: Wüstungen – zur potentiellen Renaissance eines historischen Phänomens S. 27 – 47
Stephan Beetz: „Landflucht“-Diskurs und territorialer Wettbewerb S. 48 – 61
Xosé-Manoel Núñez: Überseeische Rückwanderung und sozialer Wandel in Spanien und Portugal, 1830-1970: Eine Forschungsbilanz S. 62 – 83
Susen Engel: Migrations- und Integrationspotenziale im ländlichen Raum Deutschlands S. 84 – 97
ABSTRACTS: S. 98-100
FORUM S. 101 – 111
Simone Helmle: Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel (1952–2012): Ein Langzeitprojekt geht in die vierte Runde
Harald Michel: Plädoyer: Der demographische Wandel ist nicht aufzuhalten – Konzentration auf wirksame Anpassungsstrategien ist gefragt
Interview von Frau E. Barlösius mit Herrn R. Danielzyk, Arbeitskreis Multilokale Lebensführung und räumliche Entwicklungen
REZENSIONEN S.112 – 141
Abstracts
Matthias Asche
Migration Regimes and Migration Systems after the Thirty Years’ War – The Significance of Migration caused by War for the (Re-)Construction of and the Changes to rural Societies, illustrated by the example of Northern Germany
Despite the sometimes still powerful „master narrative“ of the all-destructive Fury of the Thirty Years War, since Günther Franz at the latest modern research has been laying emphasis on the different intensity of destruction and depopulation caused by war both geographical and chronological.
This article concentrates on the aspects of the profound socio-economic changes in a migrationhistorical perspective that had taken place in vast parts of the Holy Roman Empire and central Europe following the war. It focuses on the rural societies in northern German territories. The article attaches particular weight to two aspects: firstly to bring out the role of the respective authorities in the process of demographic (re-)construction of destroyed and depopulated rural societies. Special attention is being given to the forms of directed (im-)migration as defined by „migration regimes“ (migration control). Secondly, the article aims to illustrate the significance of specific „migration systems“ and their networks for the phenomenons of migration and mobility within a rural society.
Anja Reichert-Schick
Abandoned settlements – renaissance of a historical phenomenon?
Regressive changes in the settlement patterns are attended by decline, a decay of the cultural landscape and the contraction of the settlement frontiers. These processes can be observed in all ages of the settlement history and can be judged as a consistent and pervasive trend. However, lost settlements are perceived first and foremost as phenomenon of the late middle ages. But the research about deserted villages becomes relevant again. There are recent desettlement processes due to increasing regional disparities and the second demographic transition. Some regions suffering from depopulation are in danger to be abandoned. But disparities are not fixed and unchangeable structures. They arise, they can be dissolved, they can be diminished by convergence and they can be intensified by divergent evolutions. This contribution deliberates on the question, if the phenomenon of abandoned settlements becomes relevant again in Germany. The definition of the basic terms „regression“ and „deserted villages“ is followed from an overview about the different reasons of regression processes. Afterwards the recent regression processes are analyzed by bearing in mind their spatial differentiation and the complex interdependency of the mechanisms. Based on considerations about the current sociopolitical and functional significance of the peripheral rural regions required measures are deduced that are suitable for the stabilization of the periphery.
Stephan Beetz
The discourse of ‚rural exodus‘ and the territorial competition
The self-evident use of terms like ‘rural’ or ‘country’ strongly contrasts to the great difficulty to define them sociologically. All the more it is challenging to analyze spaces not substantially but as the ‘production’ oft spatial or territorial arrangements. Similarly, the term ‘rural exodus‘ (‘Landflucht’) can’t be derived from the concrete analysis of migration paths between rural and urban regions. In this article we argue that there is only an incoherently correlation between the discourse of ‘rural exodus’ and the empiricism of migration. The demography of rural regions is a semantic field that has been shaped by societal interpretations and constellations of interest since the end of the 19th century. Thus, in the recent renewing discussion of ‘rural exodus’ their discursive self-reliance has to be taken into consideration. Therefore, we aim to reveal the conceptual references and social interpretations attached to this meaning. Furthermore, it is suggested that the scheme ‘rural exodus’ are used in political und public renegotiation of new spatial arrangements.
Xosé-Manoel Núñez
Transatlantic Return Migration and Social Change in Spain and Portugal, 1830– 1970: An overview of recent research
The article bridges a comparative overview of the state of he art of the historical analysis of overseas return migration from 1830 to 1970. First, the main themes and conclusions of comparative research on American return migration to Europe are sketched, covering the demographic, economic, social, political and cultural aspects of return. Second, an analytical overview is offered of the main thematic areas and research problems regarding return migration from America to Spain and Portugal. While economic history has focused on the question of money remittances and their distribution over time and space, social historians have attempted to measure the contribution of return migration to upwards social mobility in rural areas, and agrarian historians on their turn concentrated on how American returnees fostered rural protest. Cultural historians have insisted instead on the iconic ambiguity of the literary stereotype of the successful returnee (indiano or brasileiro). However, the best results have come from microhistorical analyses, which attempted at offering a multidisciplinary interpretation of the local and regional impact of return migration.
Susen Engel
Migration and Integration in rural areas: specific potentials and conditions
Questions of migration and integration for rural areas in Germany were rarely discussed in the social sciences community in the past. Instead topics like migration and the socio-economic consequences of an aging population have been discussed in great detail. In this article we provide an overview of results obtained by the project „Integration potential in small towns and rural districts“ which was funded by the Schader Foundation. The main result of our study is that the immigration history and integration conditions have different characteristics in rural areas when compared to larger cities in Germany. Rural areas all offer different policies for municipal integration which results in a wider spectrum of conditions, but also an increased potential for the integration of immigrants. The organization of the integration process depends on local factors such as size and the local political, institutional, economic and social conditions as well as the specific local immigration history.