Jg. 60 – 2012 – Heft 2: Bauernfamilien in Vergangenheit und Gegenwart
Editorial
Vor 20 Jahren ging eine soziologische Arbeitsgruppe um Bruno Hildenbrand der Fragestellung nach, wie Bauernfamilien mit der Krise der Landwirtschaft im Konflikt von Ökonomie und Familie, zwischen Hoforientierung und individuellem Interesse zurechtkommen und welche familiären Ressourcen sie für die Bewältigung dieser Krise und damit die Weiterführung des Betriebs mobilisieren können. Zudem ging die Arbeitsgruppe den sozialhistorischen Gründen für die Entwicklung in diesem Feld nach. Sie versprach sich mit einer Analyse im Schnittfeld von historischem Erfahrungsraum und aktuellen sozialen Erwartungen ein besseres Verständnis für die Stellung der Bauernfamilie bzw. der selbständig Landwirtschaft betreibenden Familie in der modernen Gesellschaft. Nachdem auch in der Zwischenzeit die Forschung zum Familienbetrieb von wirtschaftlichen und rechtlichen Fragestellungen geprägt war, soll in diesem Heft wieder die Bauernfamilie als besondere Familienform in den Mittelpunkt rücken. Und wieder soll anknüpfend an den aktuellen Stand der Forschung der historische Erfahrungsraum ausgeleuchtet und bezogen auf neueste Entwicklungen die familiäre Situation nachgezeichnet werden. Aufgrund ihrer biologischen Funktion ist die Familie zwar ein relativ stabiles Gebilde, doch zeigt sie sich im Laufe der historischen Entwicklung in einer solchen Formenvielfalt, dass man bei ihr keineswegs von einer überzeitlich gleichbleibenden Einheit sprechen kann. Historische Feinanalysen der vergangenen Jahrzehnte konnten überzeugend nachweisen, dass die Vorstellung von der bäuerlichen Familie der vorindustriellen Gesellschaft als patriarchalischer Großfamilie ein Mythos ist, der in den Quellen des Mittelalters und der Frühneuzeit keine Bestätigung findet. Die von der älteren Forschung behauptete Reduktion von Großfamilien zu Kleinfamilien im Zuge der Industrialisierung konnte in England, dem Hauptland der frühindustriellen Entwicklung, durch detaillierte demographische Untersuchungen bis in das Spätmittelalter hinein nicht bestätigt werden: Auf der Basis von statistischen Berechnungen in einzelnen ländlichen Gemeinden fand man nur durchschnittliche Haushaltsgrößen.
Die auf dieser Grundlage ermittelten Haushalte der Frühen Neuzeit zeigten zwar gewisse Differenzen zur späteren industriellen Gesellschaft, aber die Unterschiede waren keinesfalls ungewöhnlich. Von einer vorindustriellen Großfamilie im Kontrast zur Kleinfamilie der Moderne ließ sich anhand dieser historischen Daten also kaum sprechen. Trotz dieser Erkenntnis wird in vielen Handbüchern noch immer an einer Dichotomie zwischen vorindustrieller Großfamilie und moderner Kleinfamilie festgehalten. Erheblichen Einfluss auf die Struktur der bäuerlichen Familie in der alteuropäischen Gesellschaft hatten insbesondere Agrarwirtschaft, Grundherrschaft und Fürstenstaat. Eng verbunden mit dem Wandlungsprozess der bäuerlichen Familie ist dabei vor allem die Frage nach der Entwicklung der bäuerlichen Familienwirtschaft und der Weitergabe der Bauernbetriebe an die nachfolgende Generation mittels unterschiedlicher Vererbungsformen. Um die Zersplitterung der bäuerlichen Betriebe zu verhindern und die Wirtschaftskraft der Höfe im Interesse der Abgabenleistung zu erhalten, haben die Grundherren offenbar die geschlossene Gütervererbung begünstigt, während sich in anderen Agrarregionen aufgrund verschiedenartiger Faktoren die Realteilung durchsetzen konnte. Im Beitrag von Werner Rösener werden die Vererbungsstrategien und deren Einflüsse auf die bäuerliche Familienwirtschaft in der vormodernen Agrarwirtschaft detailliert analysiert. Einzelerbfolge und Realteilung bestimmten jahrhundertelang Struktur und Entwicklung der Bauernbetriebe in den untersuchten nord- und süddeutschen Regionen. Rechtliche Normen, wirtschaftliche Faktoren und unterschiedliche Umweltbedingungen prägten die Handlungspraktiken und Strategien bei der Vererbung von Grundbesitz und Bauernhöfen. Die Regelung des Erbganges in Form des Anerbenrechts oder der Realteilung beeinflusste in unterschiedlichem Maße die Struktur der Bauernfamilien und die Verbindung der Bauern mit ihrem Besitz im Rahmen der Grundherrschaft.
Gebiete mit dominanter Realteilung neigten offenbar stärker zum Kleingütersystem und zur Bildung kleinerer Bauernfamilien, während Gebiete mit geschlossener Vererbung von Höfen zu größeren Haushaltsformen tendierten. Der Beitrag von Stefan Sonderegger beschäftigt sich exemplarisch mit den Bauernfamilien und ihren Agrarbetrieben im Bereich der Nordschweiz während des Spätmittelalters. Die Bauernfamilien werden dabei in Bezug auf Formen von Kooperation mit ihren Grundherren, aber auch hinsichtlich verschiedener Abhängigkeitsformen untersucht. Als Grundlage dienen aufschlussreiche Ergebnisse neuerer Schweizer Forschungen zur ländlichen Gesellschaft des Spätmittelalters, die sich auf Studien zu verschiedenen geistlichen und weltlichen Grundherrschaften stützen. Vielfältige Aspekte zur Größe bäuerlicher Familien, zur Struktur der Bauernbetriebe, zu Formen von landwirtschaftlicher und handwerklicher Kooperation sowie zu den allgemeinen Austauschbeziehungen werden beleuchtet.
Kollektive Erfahrungen mit solchen gesellschaftlichen und agrarwirtschaftlichen Bedingungen führen in Anlehnung an die französische Strukturgeschichte zu einer bäuerlichen Mentalität und im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu einer bäuerlichen Habitusform mit eigenen Werte- und Deutungsmustern. Wie sich bäuerliche Erfahrung in der Phase zwischen Neuzeit und Industriezeitalter in spezifischen Handlungsmustern habitualisiert, zeichnet Michael Kopsidis in seiner Studie zur Agrarentwicklung in England und in Westfalen nach. Beispielhaft weist er aus entwicklungsökonomischer Perspektive auf die große Bedeutung von Landbesitz für den traditionellen Bauern hin. Aufgrund des Fehlens funktionstüchtiger Märkte stelle Land weitaus mehr dar als einen beliebigen Produktionsfaktor, „dessen Wert ausschließlich von seinem agrarischen Ertrag abhängt. Bei fehlenden Finanz- und Versicherungs- sowie restringierten Kreditmärkten leitet sich der Wert des Landes zusätzlich aus seiner Funktion als letzte, wenn nicht einzige Sicherheit gegen alle gefährlichen Risiken des bäuerlichen Lebens ab“. Des Weiteren weist Kopsidis auf die Rationalität des Festhaltens an der traditionellen Familienwirtschaft bis ins 20. Jahrhundert hin. Denn bis zum Zweiten Weltkrieg habe der bäuerliche Familienbetrieb unter keinen Wettbewerbsnachteilen gegenüber den auf Lohnarbeit beruhenden Großbetrieben gelitten. Erst danach erreichte Europa eine Phase der Agrarentwicklung, in der erstmals ausgeprägte economics of scale auftreten. Grund sei die volle Mechanisierung aller Arbeitsvorgänge. „Diese lohnt aber erst, wenn aufgrund anhaltender und hoher außerlandwirtschaftlicher Reallohnzuwächse sich gleichzeitig die relativen Kapitalkosten deutlich verbilligen und Arbeitskräfte in der Landwirtschaft immer knapper und teurer werden.“ Als einen für unser Thema besonders interessanten Sachverhalt führt Kopsidis an, dass nichts weniger der Realität hochstehender vorindustrieller Agrargesellschaften entspreche als das Bild passiver Bauern, die hilflos den Herrschenden und den Marktkräften von außen ausgeliefert gewesen wären. In diesem Kontext sei auch das berühmte Tschajanowsche Modell des bäuerlichen Haushalts, das in Wirtschaftsgeschichte und Entwicklungsökonomie weite Verbreitung gefunden hat, nur von begrenzter Gültigkeit. Denn in ihm „dient allein die subjektive Nutzenbewertung abhängig vom sozial determinierten Existenzminimum sowie von der Größe und Zusammensetzung des bäuerlichen Haushalts als Richtschnur für Produktionsentscheidungen. … Eine vorhersehbare, konstante Reaktion auf Marktanreize erfolgt nicht, so dass marktorientiertes anhaltendes Agrarwachstum nur unter sehr erschwerten Bedingungen stattfinden kann“. Schon die Einbettung von Markttransaktionen in bäuerliche Gemeinschaftsstrukturen sei in vorindustrieller Zeit für den Erfolg einer marktorientierten Agrarentwicklung von eminenter Bedeutung gewesen. Denn „die niedrigeren Transaktionskosten sogenannter traditioneller Institutionen führen … zu einer höheren ökonomischen Effizienz“. In dem Maße, wie sich bäuerliche Wirtschaften durch eine Dominanz der Familienarbeit auszeichneten, stelle die monetäre Bewertung von Familienarbeit eine kaum lösbare Frage für Forschung und Praxis dar. Dieser Sachverhalt resultiere aus dem Umstand, dass „sich der bäuerliche Haushalt durch eine Symbiose von Produktion und Konsum in einer Einheit auszeichnet. Entlohnung der Familienarbeit und Profit aus ihr lassen sich kaum trennen. Überhaupt stößt die Ermittlung einer Kapitalrendite für den bäuerlichen Familienbetrieb auf große Schwierigkeiten, solange der Großteil an Inputs und Kapitalgütern in Eigenarbeit erstellt wird. Das Fehlen einer klar definierten Kapitalrendite unterscheidet den bäuerlichen Haushalt prinzipiell von einem kapitalistischen Familienbetrieb“. Das bedeutet in der weiteren Konsequenz: Je unklarer hier die ökonomische Situation nach formalen Kriterien ist, eine desto größere Rolle müssen affektive, sozialmoralische und traditionale Motive für die bäuerliche Betriebsführung spielen.
Ökonomische, auch entwicklungsökonomische Ansätze zur Erklärung familienbetrieblichen Handelns sind umso plausibler, je unmittelbarer und alternativloser das Interesse einer Familie und aller ihrer Mitglieder am Bestand des Betriebs ist. Je mehr attraktive Lebensmöglichkeiten sich außerhalb der Landwirtschaft ergeben, desto weniger erschöpft sich jedoch die Lebenspraxis in der Reproduktion unhinterfragt gültiger Denk- und Handlungsmuster. Und desto mehr wird wie in der Gegenwartsgesellschaft manifest, dass ein Familienunternehmen – nicht nur in der Landwirtschaft – aus der „Verstrickung“ einer Familie mit einem Betrieb im Sinne einer exklusiven Verbindung hervorgeht. Bei dieser Verbindung handelt es sich um ein Zusammenspiel von materiellen und ideellen Faktoren. Mit dem Familienbesitz sind erstens sinnstiftende Funktionen verbunden; über das familiale Objekt bildet sich eine identifikatorische Beziehung zwischen den Familienmitgliedern und der Materialität des Betriebs. Verliert zweitens die Bewirtschaftung eines eigenen Betriebs an Selbstverständlichkeit hinsichtlich Subsistenzsicherung und Statuserhalt, dann wirken sich die Strukturmerkmale der Familie als Familie mit ihrer Eigenlogik sehr viel stärker auf das Handeln der Beteiligten aus. Mit der Auflösung der selbstverständlichen Einheit von Familie und Betrieb, wie noch im familienbetrieblichen Leitbild aus den 1960er und 70er Jahren postuliert, öffnen sich drittens biografische Optionen, welche die Kontinuität des Familienbetriebs vor allem im Generationenübergang gefährden. Im Anschluss an solche Fragen zeichnet der Beitrag von Karl Friedrich Bohler die Problematik der Bauernfamilie in der gegenwärtigen Gesellschaft nach. So folgt die Bauernfamilie zwar dem generellen Prozess der Funktionsentlastung der Familie nicht, die Art der Beziehungen innerhalb der Kernfamilie gewinnt aber für das Zusammenleben und die biografische Entwicklung der Kinder auch in diesem Milieu an Bedeutung. Daraus ergeben sich Folgefragen nach den Grenzen der affektiven Bindung, genauer: ob diese sich auf die Familienbeziehungen beschränkt oder auch den Betrieb mit umfasst. Dazu zählt die Frage nach der Spannung zwischen dem Prinzip der Nicht- Substituierbarkeit von Mitgliedern der Kernfamilie und dem spezifischen Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern im Betrieb. Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem Widerspruch zwischen einem Verständnis der modernen Familie als einer sich selbst auflösenden Gruppe und der Norm der unbedingten Solidarität, die auch die Bereitschaft zur Hofnachfolge umfasst. Und schließlich sind mögliche Reibungen zwischen den Anforderungen einer affektiven Familiensolidarität und denen einer rationalen Logik beim Ausfüllen betrieblicher Arbeitsrollen ins Auge zu fassen. Auch im Falle des Erbes bzw. der Annahme des Erbes durch den Hof- oder Betriebsnachfolger haben sich im Laufe des letzten Jahrhunderts die im Wesentlichen seit dem Spätmittelalter und der Neuzeit gültigen materiellen, institutionellen und ideellen Faktoren grundlegend verändert. So stellt sich die Frage neu nach der Möglichkeit, mit dem Erbe den sozialen Status reproduzieren zu können. Historisch gab es darauf zwei Antworten. In den Anerbengebieten war dies prinzipiell der Fall. In den Realerbteilungsgebieten wurden Fragen des Statuserhalts eher zu individuellen Anforderungen hinsichtlich Handlungsstrategien und Leistungsvermögen. Heute dagegen spielen beide Faktoren, die (materielle) Betriebsgröße und das (ideell-individuelle) Humanvermögen, eine ausschlaggebende Rolle. Darüber hinaus nehmen jetzt Familienunternehmen im Allgemeinen und der landwirtschaftliche Familienbetrieb im Besonderen eine Sonderstellung im Erbrecht ein. Eine Realteilung bestehender und zukunftsfähiger landwirtschaftlicher Betriebe im Erbgang ist ausgeschlossen.
Damit grenzt sich die Familie mit eigenem Betrieb von der modernen Familienform mit ihrem Egalitätsprinzip, dem Anspruch auf Gleichbehandlung und Gleichverteilung des Erbes ab. Und eine Ungleichbehandlung kann nicht als materialisierter Ausdruck besonderer Zuneigung zu einem Kind aufgefasst werden. Das Erbe ist seiner strukturellen Bedeutung nach kein Spiegel der unterschiedlich affektiv gefärbten Eltern-Kind-Beziehungen, weil die ungleiche Verteilung hier typischerweise einer betriebswirtschaftlichen Logik folgt, die darauf abzielt, den Notwendigkeiten bei der Kontinuitätssicherung gerecht zu werden. Die materiellen und ideellen Faktoren familienbetrieblichen Handelns sind auf das Engste mit traditionalen und modernen Handlungsmotiven verknüpft. Eine solche Verbindung manifestiert sich, wenn beim Vererben an den Sohn der materielle Kapital-Transfer um das symbolische Kapital der genealogischen Kontinuität erweitert wird. Aus psychologischer Perspektive gesehen geht es bei dieser ideellen Orientierung darum, eine – in der Regel väterliche – Abstammungslinie fortleben zu lassen und eine gesellschaftliche Position zu perpetuieren. Die Vorstellung des Vererbenden, das eigene Dasein in der Verbindung mit dem Betrieb über den Tod hinaus erhalten zu können, platziert die Dynamik von Erben und Vererben in ein Spannungsfeld zwischen Reproduktion und Tradition einerseits sowie Transformation und Moderne andererseits. Mehr noch: Mit dem familialen Objekt „Betrieb“ wird für den Erben die Balance von Individuierung (Abgrenzung von der Herkunftsfamilie) und Zugehörigkeit (zur Herkunftsfamilie) erschwert. Für den Erben öffnet sich die Schere zwischen den positiven und negativen Seiten des familienbetrieblichen Erbes gerade in der Landwirtschaft weiter. Die Unstimmigkeiten zwischen den Dispositionen des Erbes und dem Schicksal, welches das Erbe für ihn bereithält, nehmen tendenziell zu. „So präsentiert sich das Erbe (Geld und Besitz) als ambivalentes Feld, in welchem mit dem Gefühl der Freiheit und Sicherheit immer auch der Zwang der Verpflichtung und der Bindung einhergeht“. Entsprechende Spannungen und Ambivalenzen zeigen sich ebenfalls auf der Familienebene.
So kamen Hildenbrand und Mitarbeiter 1992 zu dem Ergebnis, dass selbst in den Bauernfamilien, die sich als traditionell eingestellt verstehen, Modernisierungsleistungen erbracht werden müssen, und umgekehrt in dezidiert modernen Familien immer noch eine Hofbindung zu erkennen ist, die eine traditionale Komponente einschließt. Diese Mischung aus traditionalen und modernen, affektiven und rationalen Elementen zeigt sich auch 20 Jahre später in der Schweizer Untersuchung von Rossier, Häberli und Jurt zur Frage der Betriebsweitergabe in der Landwirtschaft. Strukturelle Rahmenbedingungen sowie rationale Überlegungen zur betrieblichen und persönlichen Situation spielen eine wichtige, notwendige Rolle. Entscheidend für die Nachfolge ist nach wie vor die individuelle Bindung an den Hof, hinter der sich oft noch eine familiäre Bestimmung verbirgt. Letzteres zeigt sich auffallend an der geringen Zahl der Betriebsübernahmen durch Töchter in einer Bauernfamilie. Die Entscheidung zur Hofübernahme ergibt sich jedoch in einem biografischen Optionsraum, der in aller Regel Auswege und Alternativen kennt. Ohne die Berücksichtigung von Familientraditionen und ideellen wie affektiven Bindungen sei den Autorinnen zufolge nicht zu erklären, weshalb sich der Strukturwandel in der Landwirtschaft – auf ökonomische Kennzahlen bezogen – so relativ langsam vollziehen würde. Ein weiteres Streiflicht auf die Problematik der Betriebsweiterführung in gegenwärtigen Bauernfamilien wirft der österreichische Forschungsbericht von Andrea Heistinger. Er behandelt den Sonderfall der Betriebsübergabe an Familienfremde. Sonderfall deshalb, weil diese Übergabeform noch seltener ist als die Betriebsnachfolge durch Töchter der Eigentümerfamilie. Hintergrund für diese ungewöhnliche, mit modernen Lebensmustern attribuierte Entscheidung scheint jedoch die eher traditionale Einstellung zu sein, dass „die Familie für den Hof da ist“. Fällt diese aus, weckt das die Bereitschaft wenigstens einiger wirtschaftender Bauernfamilien, den Weiterbestand des Hofes als primäres Ziel auch durch Fremde sichern zu lassen. Insgesamt werfen die Beiträge dieses Hefts ein differenziertes Bild auf die Lage der Bauernfamilie in Geschichte und Gegenwart. Die Bauernfamilie wird auch weiterhin und auch abseits wissenschaftlicher Moden ein Gegenstand für Untersuchungen etwa der Historischen Anthropologie bleiben, weil der bäuerliche Familienbetrieb die wichtigste soziale Handlungseinheit vormoderner Gesellschaften im westlichen Europa war. Und die Bauernfamilie, wie generell die Familienform des selbständigen Mittelstands, wird auch ein irritierendes Moment der Familiensoziologie bleiben, weil sie nicht „gesetzmäßig“ dem übergreifenden Differenzierungstheorem folgen. Aber nicht nur das: Die Erfahrung, die mit der mangelnden Differenzierung von Familie und Beruf bzw. Betrieb verbundenen sozialen Spannungsverhältnisse zu bewältigen, scheint den Beteiligten – auch ohne die bewusst romantisierende „Ganzheitlichkeit“ eines Lebensprogramms – zu einer größeren existenziellen Zufriedenheit hinsichtlich ihres sozialen Daseins zu verhelfen als dies bei Mitgliedern prononciert moderner Milieus oft der Fall ist.
Karl Friedrich Bohler
Werner Rösener
Inhaltsverzeichnis
Editorial: S. 8-13
Werner Rösener: Vererbungsstrategien und bäuerliche Familienwirtschaft in der vormodernen Agrargesellschaft S. 14-34
Stefan Sonderegger: Bauernfamilien und ihre Landwirtschaft im Spätmittelalter.
Beispiele aus Untersuchungen zur ländlichen Gesellschaft der Nordschweiz S. 35-57
Karl Friedrich Bohler: Bauernfamilien in der Moderne S. 58-74
Ruth Rossier, Isabel Häberli und Christine Jurt: Wer übernimmt den elterlichen Hof? Schweizer Fallbeispiele im Zeitraum von zehn Jahren. S. 75-97
ABSTRACTS: S. 98-99
FORUM S. 100- 126
Andrea Heistinger: Forschungsbericht: „Ich habe mir meine Erben selbst gesucht“. Zu den Möglichkeiten eines Einstiegs in die Landwirtschaft in Österreich
Heike Düselder: Bericht über das Projekt „Mensch und Umwelt“
Dietrich Rieger: Bericht über die Fachtagung und Mitgliederversammlung der
Gesellschaft für Agrargeschichte e. V. (GfA) am 15. Juni 2012 in Frankfurt am Main
Stefan Brakensiek: Grenzgänger und Vermittler. Nachruf auf András Vári (1953–2011)
REZENSIONEN S. 127 – 150
Abstracts
Werner Rösener: Inheritance customs and peasant family economy in preindustrial society
The study of inheritance customs in northern and southern areas of Germany shows that peasant inheritance customs such as impartible inheritance (Einzelerbfolge) and partible inheritance (Realteilung) had a great influence on the development of peasant farms and rural family structures in the Middle Ages and in modern times. The composition and size of peasant families and their farm economy depended both on the power of the lords and the inheritance customs in various regions. In areasdominated by partible inheritance smaller farms and families prevailed, whereas areas whose laws favoured impartible inheritance tended to have much greater households. The manorial lords tried to preserve the original size of the holdings and to prevent further land divisions in order to maintain the profitability of the peasant farm economy. For this reason they urged their peasants to leave their farms to a single heir, who was expected to be married.But the lords only succeeded in their intentions if soil conditions and climatic circumstances were favourable to keeping large peasant farms.
Stefan Sonderegger: Farming Families and the Running of Farms in the late Middle Ages. Highlights from research on rural society in northern Switzerland.
The contribution focuses on the economies of farming families in the Late Middle Ages that have been researched in recent works about ecclesiastical and secular landowners in Northern Switzerland. It was common for landlords to confer farmsteads as entails – meaning the farms would pass automatically from the tenant to his direct descendants. This gave tenant farmers a great amount of freedom in choosing how to use the land. Many farming families handled their affairs over generations as if they were de facto owners of the property. Land owners may thereby have run the risk of losing their claim to an estate, but the system certainly encouraged tenant farmers to act on their own initiative, as evidenced in forms of cooperation between landlords and tenants in matters of maintenance and agricultural production. Secular landowners in particular took active steps to foster profit-oriented farming among their tenants, for instance by participating in costs and granting loans – in monetary form and in kind – for wine and cattle farming. Such loans, however, also led to increasing economic dependency on the part of the farming families concerned, in addition to their legal dependency. In the day-to-day relations between the farmers and their landlords, cooperation and conflict were never far apart. Conditions had to be renegotiated on an ongoing basis
Karl Friedrich Bohler: Farmers‘ families in modern times
Farms as a business have been really very well researched, whereas, the social issues relating to farming and their families have only been touched upon in passing, so to speak. A reason can be advanced for this: farmers‘ families were regarded as a minor issue in Germany – even in agricultural regions. As farms increased in growth the pattern changed. Agriculture was fast becoming accepted as a business which meant that the issue of human resource management increased in importance. In the context of agricultural changes in Europe, farming families became regarded in the same way as any other organisation running their own business. This meant that the problems associated with running a business embraced the whole family where they found that the traditional role of the family and that of running a professional business were no longer a separate issue. Following Talcott Parsons, one can make a presumption here for the formation of the modern nuclear family. Today, however, there is now less readiness to combine family and business roles. It is getting more and more difficult to find a wife for the heir of the farm. It is by no means the case that natural heirs will obviously follow-on. The corollary to this is that without expertise and experience gained within the family through immersing themselves in farming practice and the dwindling likelihood of any one inheriting the farming business, farming as a business risks a real threat of gradually dying out.
Ruth Rossier, Isabel Häberli and Christine Jurt: Who will take over the parental farm? Swiss case studies over a ten-year period
Farm transfer is a conscious decision-making process in which various advantages and disadvantages are considered and evaluated on both a farm and a personal level. Basic structural conditions such as the takeover price and the Swiss agricultural policy are involved in the decision. An analysis of farm succession situations on seven Swiss family farms over a ten-year period has also shown that other factors are significant too. Thus an interest in farming, education and the family, including the familyconstellation, play a major role. Expectations and socialisation exert a considerable influence on potential successors, even though traditional standards such as farm transfer to the eldest son are no longer so important. Gender-specific patterns of farmtransfer continue to predominate, however. Irrespective of their interest, daughtersare only taken into consideration as farm successors if there are no sons who want to take over the parental farm.